Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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06MAI2022
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Jede Zeit bringt ihre eigene Mode hervor. Ihren ganz eigenen Stil, sich einzurichten, sich zu kleiden und auch ihren eigenen Stil zu sprechen. Da schaffen‘s kleine Wörter quasi über Nacht, zu den meistgesprochenen Wörtern zu gehören. In meiner Jugend hießen die ‚klasse‘ oder ‚toll‘ oder ‚super‘. Später ‚echt‘ oder ‚cool‘.

In letzter Zeit fällt mir auch so ein Wörtchen auf, das in jedem zweiten Satz gesagt wird, ‚gefühlt‘ jedenfalls, auch so ein schickes Modewort. Und nicht etwa nur von anderen, ich sag das auch ziemlich oft. Das Wort, das ich meine, heißt ‚tatsächlich‘. Eigentlich ist es doch dafür da, etwas zu bekräftigen, was nicht so recht geglaubt wird. Aber es wird auch in harmlose Sätzchen eingestreut, etwa, dass diese Pizza besser schmeckt als die andere.

Modewörter fallen nicht vom Himmel, sie passen immer zu der Zeit, in der sie entstehen. Warum, so frage ich mich, müssen wir derzeit alles, was wir sagen, nochmals eigens bekräftigen? Eine Antwort könnte sein: Die ‚Wahrheit‘ ist heute nicht mehr so eindeutig, nicht mehr der feste Boden, auf dem wir alle stehen und auf dem wir uns verständigen können. Was einmal ‚Lüge‘ hieß, wird heute gern als ‚alternative Fakten‘ bezeichnet. Und sogar in meiner Kirche haben sich hochrangige Vertreter in einem Netz von Schweigen und Halbwahrheiten verfangen, die die Glaubwürdigkeit der Kirche zutiefst erschüttern.

Kein Wunder, dass so Viele verunsichert sind. Und weil mir das auch so geht, hab auch ich das Bedürfnis, das, was ich sage, gleich noch zu beglaubigen, zu betonen, dass es ‚tatsächlich‘ so ist und dass ich nicht lüge. Schlimm eigentlich.

„Die Wahrheit wird euch frei machen.“ (Johannes 8,32) Das hat Jesus gesagt. Und Wahrheit beginnt immer unscheinbar. Sie beginnt mit meiner Wahrhaftigkeit, mit dem, wie ich im Alltag rede und handle. Ich glaube, das macht wirklich frei. Frei von der Angst, mich in meinen Lügen zu verheddern und aufzufliegen. Frei von der Sorge, wie ich dastehe, wenn ich nichts Interessantes erzählen kann. Und am Ende auch frei von dem Misstrauen, immer und überall belogen zu werden. Denn so wie mir geht‘s doch sicher auch vielen anderen. Die genug haben von Lügen und Unwahrheiten. Und einfach mal anfangen, der Wahrheit zu vertrauen. Der ganz kleinen alltäglichen Wahrheit, die man Wahrhaftigkeit nennt.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=35324
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