SWR2 Wort zum Tag

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23APR2022
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Ich lese Ihnen heute eine Meldung vor, die noch in keiner Zeitung gestanden hat. Darin heißt es: “Die Schulbehörde in N. wies die Direktoren an zu verhindern, dass Fach- und Oberschüler die Mittwochabend-Orgelkonzerte besuchen. Lehrer fingen Schüler vor den Kirchenportalen ab und sagten den Eltern: Entweder – oder. Eltern sagten ihren Kindern: Entweder – oder. Bald reichten die Sitzplätze im Schiff und auf den Emporen nicht mehr aus.“

Diese „Meldung, die in keiner Zeitung stand“, hat der Schriftsteller Reiner Kunze verfasst. Von Beginn der DDR an hat er dort gelebt. Dann hat er dem Land 1977 für immer den Rücken gekehrt. „Die wunderbaren Jahre“ heißt der kleine Prosaband, der kurz darauf im Westen erschienen ist. Und der Titel ist durchaus ironisch gemeint.

Denn was war das für ein Land, das den Besuch von Orgelkonzerten verboten hat? Welche Gefahr geht denn von Orgeln aus? Und warum soll ein Kirchenraum erst gar nicht betreten werden? Auch darauf hat Reiner Kunze eine Antwort gegeben. Er schreibt: „Hier müssen sie nichts sagen, was sie nicht denken. Hier umfängt sie das Nichtalltägliche und sie müssen mit keinem Kompromiss dafür zahlen. Hier ist der Ruhepunkt der Woche. Sie sind sich einig im Hiersein. Hier herrscht die Orgel.“

Wo aber die Orgel herrscht, so führe ich seine Gedanken weiter, da relativieren sich ganz schnell alle anderen Herrschaftsansprüche. Hinter den Kirchentüren tut sich ein Raum der Freiheit auf, der anscheinend auch dann zu spüren ist, wenn niemand etwas predigt oder sagt. Wenn nur die Orgel herrscht. Und niemand sich verstellen muss. Einfach nur sein darf. Hören. Und verstehen. Und widerstehen.

Zum Schluss seines Orgelkonzerts äußert Reiner Kunze noch einen Wunsch. Und ich wünschte, der würde wahr. Überall dort, wo es immer noch verboten ist, in Freiheit die Wahrheit zu sagen:

„Alle Orgeln, sie alle müssten plötzlich zu tönen beginnen und die Lügen, von denen die Luft schon so gesättigt ist, dass der um Ehrlichkeit Bemühte kaum noch atmen kann, hinwegfegen. Hinwegdröhnen all den Terror im Geiste … Wenigstens ein einziges Mal, wenigstens für einen Mittwochabend.“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=35244
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