Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

22APR2022
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Ein Freund ruft mich an. Er bittet mich um ein Gespräch. Jetzt gleich. Ich bin einverstanden. Auch weil ich merke, dass etwas nicht stimmt; dass ihn etwas sehr beschäftigt. Als er da ist, bestätigt sich, was ich vermutet habe. Er trägt etwas mit sich herum, das ihm wehtut. Seit Tagen schon. Es hat auch mit mir zu tun. Er kämpft mit den Tränen. Er sagt, er sei enttäuscht von mir. Ich würde im Radio schöne Worte finden. Aber er sei so allein mit seinem Problem, und die Wunde sei tief und offen. Im Laufe des weiteren Gesprächs verstehe ich besser, worum es geht. Ich verstehe die Sachlage; das ist das eine. Er hat sich zwei Jahre lang angestrengt, mit seiner Familie gut durch die Pandemie zu kommen. Das hat sie an den Rand dessen gebracht, was sie aushalten. Jetzt bräuchte er Hilfe. Und niemand kommt von sich aus und unterstützt ihn. Auch ich nicht. Aber zwischen den Zeilen spüre ich, was noch dahintersteckt. Mein Freund ist müde und erschöpft. Er will mit aller Kraft, die er noch hat, daran festhalten, was ihm wichtig ist, was seinem Leben einen Rahmen und Halt gibt. Und er spürt immer deutlicher, dass er es nicht mehr schafft. Die Pandemie und der Krieg machen Angst. Ständig muss man überlegen, wen man treffen kann und welche Regeln jetzt gelten. Das alles ist anstrengend und viel. Und in seinem Fall eben zu anstrengend und zu viel. Wenn dann noch etwas dazukommt, womöglich etwas, das einem persönlich sehr nahe geht, dann gerät die Welt ins Wanken.

Mir sind in letzter Zeit so viele Menschen begegnet, die auf einmal zu weinen begonnen haben, wie noch nie. Von einer Sekunde auf die nächste. Wir haben gesprochen und ein bisschen die Last des Lebens geteilt. Und plötzlich bricht die Wunde auf, die man mühsam verbunden hatte. *Die Mutter ist alt und krank: Wie lange hat sie wohl noch? *Mein Sohn ist seit acht Monaten in der Psychiatrie. Was einen sonst in solchen Situationen daran hindert zusammenzubrechen oder seine Gefühle offen zu zeigen, das fällt auf einmal in sich zusammen wie ein Kartenhaus.

Ich finde es gut und wichtig, wenn wir weinen und andere an unseren Gefühlen teilhaben lassen. Das ist zumindest ein erster Schritt, um loszulassen, was einen bedrückt. Es ist noch nicht die Lösung für das Sachproblem. Aber wer weiß, vielleicht relativiert sich das auch, wenn man spürt, dass andere die Last mit einem teilen.

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