Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

08APR2022
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Das kann überhaupt nicht gut gehen. Der Junge steht auf einer hohen Leiter. Hält einen aufgespannten Regenschirm hoch und setzt zum Sprung an. „Mutprobe“ heißt die Kunstinstallation, von der ich ein Foto in der Hand halte. „Kenn ich doch“ denke ich. Und ich suche im Bücherregal nach dem „Fliegenden Klassenzimmer“, dem Kinderbuch von Erich Kästner. Und richtig: In meiner Originalausgabe hat der Illustrator Walter Trier genau diese Szene auch festgehalten. Da gibt es kein „zurück“ mehr. Der kleine Uli springt gerade ab. Die ganze Zeit haben sie ihn gehänselt, weil er so klein und auch ein bisschen ängstlich ist. Jetzt wird er allen zeigen, dass er ein echter Kerl ist. Am Ende liegt er bewusstlos am Boden und hat sich ein Bein gebrochen. Macht man ja auch nicht so etwas, oder? Unvernünftig und fahrlässig! Kästner hat eine andere Lehre parat. Er meint, dass ein Beinbruch nicht immer unbedingt ein Beinbruch sein muss. „Vergesst nicht“, lässt er den Lehrer Justus sagen „dass so ein Beinbruch weniger schlimm ist, als wenn der Kleine sein Leben lang Angst davor gehabt hätte, die anderen würden ihn nicht für voll nehmen. Ich glaube wirklich, dieser Fallschirmabsprung war gar nicht so blödsinnig, wie ich zunächst dachte“.

Und Johnny Trotz, der von allen Kindern der Schule die meisten Gedanken und Bilder im Kopf mit sich herum schleppt, erklärt:

„Es gibt schlimme Erlebnisse, die sich nicht umgehen lassen. Wenn Uli nicht das Bein gebrochen hätte, wäre er sicher noch viel kränker geworden.“

Für den "kleinen" Uli wird es tatsächlich ein heilsamer Sprung. Im Nachwort erfahren wir aus dem Mund seines Schulkameraden Johnny: "Uli bleibt zwar klein, aber in ihm steckt eine Kraft, der sich niemand widersetzen kann."

Ja, so ist das. Manchmal wird man erst dadurch stark, wenn man einfach springt. Wenn ich mir mal mehr zutraue, als sonst. Auch ohne hundertprozentig zu wissen, wie und wo ich lande. Und manchmal braucht man gute Dichter wie Erich Kästner, um solche Geschichten zu erzählen. Kein Wunder, dass ich die 183 Seiten des Kinderbuches an einem Abend komplett durchgelesen habe.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=35182
weiterlesen...