SWR2 Wort zum Tag

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08APR2022
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Es war während meines Studiums in Paris, eine Party im Wohnheim. Sie war auch da, obwohl sie keiner eingeladen hatte. Sie war dicklich, unbequem, unbeholfen und auch nicht die Klügste. Irgendwer hat ihr an diesem Abend seine Gitarre geliehen und sie fing an zu singen, ein Chanson: Ne me quitte pas – Verlass mich nicht. Aus dem unförmigen Körper erklang eine glockenreine Stimme, schmelzend, werbend, alle Abgründe der Liebe und des Liebesschmerzes umgreifend. Es war atemberaubend. Für fast fünf Minuten – so lange dauert das Chanson – verstummten alle Gespräche, sie hatte die volle Aufmerksamkeit. Dann verwandelte sie sich wieder in eine Randfigur. Der Abend ging weiter. Ich weiß nicht mehr ihren Namen, ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist. Aber ich habe sie nicht vergessen.

Ne me quitte pas – dieses berührende Chanson hat Jacques Brel geschrieben und gesungen. Jaques Brel – heute ist sein Geburtstag. Der Sänger wurde am 8.April1929 in Belgien geboren. Bis heute faszinieren seine Chansons die Menschen, obgleich Jacques Brel schon seit fast einem halben Jahrhundert tot ist. Er war ein rastloser Mensch, unkonventionell, auf der Suche, auch narzisstisch. Und – das verbindet ihn mit der Sängerin an diesem Abend in Paris - er war keine Schönheit. Viele fanden ihn sogar hässlich. Einer hat ihm empfohlen, das Singen auf der Bühne lieber anderen zu überlassen und besser backstage zu bleiben. Sein Aussehen war ein Thema, und Aussehen ist ein Thema bis heute. Inzwischen wird zwar selbst bei Models mehr auf Diversität geachtet, doch ich glaube nicht wirklich, dass es die Menschen deshalb sehr viel leichter haben, die dem gängigen Schönheitsideal nicht entsprechen. Auf der anderen Seite: Vielleicht konnte Jacques Brel gerade deshalb diese faszinierenden Lieder schreiben, weil er anders war. Nicht schön. Sperrig. Schwierig. Irgendwann war er übrigens so berühmt, dass die Frauen sich von seinem Aussehen nicht mehr abschrecken ließen. Erfolg macht sexy. Ne me quitte pas hat er wahrscheinlich für seine Ehefrau geschrieben, die mit den Kindern in Belgien gelebt hat, während er in Paris mit wechselnden Freundinnen unterwegs war.

Zurück zu dem Abend in Paris und der Studentin, deren Namen ich vergessen habe. Ob ihr wohl ihre berührende Stimme irgendwann geholfen hat? Ob jemand sie liebgewinnen konnte? Ich jedenfalls habe an diesem Abend in Paris eine Ahnung davon gewonnen, wie wohl Gott uns Menschen anblickt. Unbeeindruckt von unserem Aussehen, unserer Klugheit, unserer Vergangenheit und unserer Schönheit. Ne me quitte pas. Im Grunde ist die Antwort darauf ein göttliches Versprechen. Ich verlasse dich nicht. Niemals.

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