Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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31MRZ2022
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Auf einer Urlaubsreise besuchen wir einen tamilischen Tempel. Gleich am Eingangsportals kommt mir die stille, friedliche Atmosphäre entgegen. Mir fällt ein Mann mit einem weißen Bart auf. Er scheint einen Brustpanzer aus ganz vielen silbernen Federn zu tragen, die in der Sonne schimmern. Auch auf seiner Stirn prangen drei solcher Federn. Unser Guide Alain erklärt uns, dass ein Priester ihm jede einzelne Feder unter die Haut geschoben hat. Deren Kiel besteht aus einer spitzen Nadel. Dabei fließt kein einziger Tropfen Blut. Wow, denke ich – das muss doch höllisch weh tun?! Doch das Gesicht des Mannes ist ganz gelöst – entweder hat er keine Schmerzen, oder er hat sich so unter Kontrolle, dass er den Schmerz ausblendet.

„Warum tut er das?“ – frage ich unseren Guide. „Ich denke, in seiner Familie gibt es eine Störung – etwas ist aus dem Gleichgewicht. Vielleicht ein Streit oder eine schwere Krankheit? Er bringt grade ein Opfer, eine gute Tat. Damit will er die Götter besänftigen. Oder er will sie um Hilfe bitten, damit sie die Störung lösen.“

„Was für eine fremde Welt!“ denke ich. Erst später im Auto, ist mir klar geworden, dass das gar nicht so weit weg ist. Auch bei uns erlebe ich manchmal, dass Menschen Opfer bringen. Letztes Jahr im Sommer zum Beispiel. Da gab es ganz viele, die ein Opfer gebracht haben. Sie haben uns im Ahrtal nach der Flutkatastrophe geholfen, teilweise ohne Rücksicht auf ihre Gesundheit. Denn der Rücken, die Arme, die Hände – die können auch ganz schön weh tun, wenn man ein paar Stunden Eimerkette gemacht oder Putz abgestemmt hat. Diese Menschen haben ihre Zeit, Geld und Energie geopfert. Oder jetzt, wo so viele Menschen aus der Ukraine flüchten. Da sind wieder unzählige Menschen bereit zu helfen. Auch sie bringen Opfer: sie spenden Geld, teilen Wohnraum oder ihre Zeit.

Dass Menschen das tun, ist ja nicht selbstverständlich. Es gibt auch das Gegenteil: Die Angst, jemand könnte mir etwas wegnehmen. Oder den Durst, immer mehr haben zu wollen.

Vielleicht ist es eine himmlische Gabe, wenn wir Menschen etwas von uns opfern, um anderen zu helfen. Ich glaube, wir werden dann nicht ärmer, sondern reicher. Nicht schwächer, sondern stärker.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=35112
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