SWR2 Wort zum Tag

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30MRZ2022
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Es gibt Momente, in denen sich mein ganzes Weltbild verschiebt. Der Krieg in der Ukraine hat mich an vielem zweifeln lassen. Ist das noch die Welt, in der ich aufgewachsen bin? Wie verstehe ich eigentlich die Welt um mich herum? Ich kann versuchen, mich an der Vergangenheit zu orientieren: In früheren Zeiten haben die Menschen sich an Gott gewandt, wenn irgendwo ein Unglück geschehen ist. Während der Pest gab es zum Beispiel große Prozessionen, bei denen die Gläubigen um Heilung baten. Oder die Menschen haben nach Kriegen große Denkmäler aufgestellt, um den Schrecken des Krieges zu bannen.

Heute werden keine Schicksalsmächte oder Gott mehr für Katastrophen verantwortlich gemacht. Heute denken wir säkularer. Die Menschen sind ganz auf sich zurückgeworfen. Wenn uns die Zustände nicht gefallen, wird nach den Schuldigen gesucht. So wie jetzt: Putin hat einen furchtbaren Krieg begonnen, die Politiker in Europa haben die Lage falsch eingeschätzt.

Und ist es nicht richtig, sich zu fragen, wer schuldig und verantwortlich ist?
Dahinter steht der Gedanke, dass wir gut leben könnten, wenn alle fair und ehrlich handeln würden. Doch anscheinend gelingt das nicht. Die Kriege hören nicht auf, neue Krankheiten entstehen, das Klima heizt sich auf. Vielleicht muss ich die Welt mehr als einen Ort sehen, an dem das Schicksal oft tragisch verläuft.

Ich denke da an die vielen Widersprüche in Politik und Gesellschaft, die sich nicht auflösen lassen. Selbst die klügsten Politiker können nicht zaubern. Denn die Ressourcen sind begrenzt. Werden mehr Wohnungen gebaut, geht Ackerland verloren. Und bei einem Krieg gibt es sowieso nur Verlierer.

Was im Großen gilt, gilt auch im Kleinen. Jedes Leben ist auf seine Weise tragisch: Der eine trauert seiner Jugendliebe hinterher, die andere kann nach einem Unfall keinen Sport mehr treiben. Und ich muss mir eingestehen: Seit bald 20 Jahren arbeite ich mit viel Herzblut für die Kirche. Doch viele Menschen wenden sich von der Kirche ab, das Vertrauen schwindet. Da fühle ich mich oft ohnmächtig.

Ich muss wohl lernen, skeptischer und demütiger zu sein. Es gibt keine Glücksformel, nach der das Leben für alle gelingt. Es bleiben Brüche, wir irren uns und scheitern. Eine tragische Welt. Und genau darum halte ich mir auch ein kleines Stück vom Himmel offen. Vielleicht kann Gott zusammenfügen, was auf Erden nicht zusammenfindet. Vielleicht kann er den tragischen Rest heilen, der jedes Leben durchzieht. 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=35108
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