Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

24MRZ2022
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Die biblischen Psalmen sind uralte religiöse Gesänge. Die Israeliten beschreiben zum Beispiel eine scheinbar ausweglose Situation. Sie beklagen sich, dass Gott nicht eingreift, um sie zu retten. Ein Beter erzählt von seiner Angst. Einsam und krank schreit er zum Himmel, weil er Schmerzen hat. Einer sehnt sich danach, aus seinem Alltag auszubrechen. Er geht auf eine Wallfahrt. Ein anderer Beter jubelt in einem Psalm vor Glück, weil er einem Hinterhalt entkommen ist.

Beten heißt, das durchbuchstabieren, was mich beschäftigt. Beten heißt, Kontakt mit Gott aufnehmen, Fragen stellen, Antworten suchen. Als gläubiger Mensch vertraue ich darauf, dass mein Beten kein Selbstgespräch ist.

Der persische Schriftsteller SAID schreibt moderne Psalmen. Das hört sich dann so an:
„siehe herr / ich bewege mich / du brauchst nur standhaft zu bleiben / schweige / damit du mich hörst / und die stimmen der anderen / die in deiner abwesenheit leiser geworden sind / herr / ich weiß nichts von dir / und bin doch voller verlangen / ich will nur / dass du an mich glaubst / auch wenn du von mir alles weißt“
(aus: Said, Psalmen, S.42)

Ich mag diese vorsichtige, fast stammelnde Art sich dem Göttlichen zu nähern. Einen Dialog zu suchen mit dem, was wir Gott nennen. Die traditionellen Gebete treffen oft nicht das, was ich sagen will. Aber eigene Sätze zu finden ist manchmal schwer. Wenn ich einen Psalm von SAID lese, dann ist das für mich, als würde ich in einen offenen Raum treten. Wie bei den biblischen Psalmen gibt es etwas, das für mich zwischen den Zeilen steht. Spannungen können sich lösen, Leid wendet sich. Trotz verzweifeltem Anfang besingen die Psalmen am Ende Gottes Freundschaft. Sie sprechen von Hoffnung, sprühen vor Lebensfreude. Sie loben und preisen Gott für Wunder oder staunen über die schöne Welt. Wenn Jesus am Kreuz den 22ten Psalm zu beten beginnt, beklagt er sich zwar zunächst: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen …?“ aber am Ende hat Gott in diesem Psalm das Schreien gehört und ist treu. Anders als es oft vordergründig verstanden wird, beklagt sich Jesus in seiner Todesstunde also nicht, dass Gott ihn verlassen hätte, ganz im Gegenteil: Der Jude Jesus betet und vertraut auf die Zusage Gottes: Ich bin da! Gott ist ein Weggefährte durch alle Höhen und Tiefen unseres Lebens. Dieses Bild findet sich auch in einem kurzen Psalm bei SAID, er bittet:
„herr / stehe zu mir und meiner einfalt / die mich zu dir führt / denn ich will die vertraulichkeiten der erde begreifen / sei keine flucht oh herr / aber ein gefährte / für kommende wege“
(aus: Said, Psalmen, Verlag C.H. Beck, S.47)

https://www.kirche-im-swr.de/?m=35056
weiterlesen...