Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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15MRZ2022
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Wir sollten die Freude nicht vergessen. Die Lebensfreude ist ganz wichtig. Gerade jetzt, wo das Leben für Viele so bedroht ist. Gerade jetzt sollten wir das Leben wertschätzen. Wie man die Lebensfreude wiederfinden kann, das habe ich bei einer lieben alt gewordenen Frau gesehen. Wir haben uns an ihrem 80. Geburtstag kennen gelernt. Als ich erschien, war der Kaffeetisch schon gedeckt. Nur für uns zwei. Wir unterhielten uns unverkrampft und freundlich zugewandt. Mir fiel auf, wie schmal  und zerbrechlich sie aussah und deshalb fragte ganz frech, ob sie sich das Essen wohl ganz abgewöhnt habe. Daraufhin schaute sie mir tief in die Augen und meinte: „Ich hab keine Freude am Essen. Mir schmeckt es nicht, so allein.“

Und da haben wir ganz spontan vereinbart, dass ich in Zukunft einmal im Monat zu ihr zum Mittagessen komme. Und dann hat das immer schon angefangen, ehe es begonnen hat.

Denn am Mittwoch hat sie den fälligen Hausputz gemacht, Donnerstags war sie beim Friseur und wenn ich Freitags um halb Eins geklingelt habe, dann hat sie immer mit weißer Schürze dagestanden und mich mit strahlendem Gesicht empfangen. Ich war dann zuerst für das Tischgebet zuständig und sie für das Servieren. Und dann erzählte sie mir von früher, vom Krieg, von dem Bombenangriff auf die Südstadt, von dem jungen Mann, den sie so lieb gehabt hat und der nie wiedergekommen ist.

Sie hat nie gejammert, es war eher ein stolzes Beklagen  und immer auch ein Ringen mit dem rätselhaften Gott. Und dann haben wir uns verabschiedet. Sie hat mich nie aufgehalten. Wir waren ja verabredet. Wir hatten ja einen nächsten Freitag. Und außerdem hatte sie jetzt auch keine Zeit mehr für mich. Denn sie hat nach meinem Weggehen die Schürze ausgezogen, die übrigen Dampfnudeln eingepackt,  ist mit dem Korb unterm Arm durch ihre Straße gegangen und hat die anderen einsamen Seelen besucht. 

 

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