Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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11MRZ2022
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Drei Minuten ist sie unter Wasser. Ohne Sauerstoffgerät. Und über hundert Meter geht es in die Tiefe.

Anna von Boetticher ist Apnoetaucherin. Apnoe heißt so viel wie Atemstillstand und bedeutet in diesem Zusammenhang: Eine Lunge voll Luft und gucken, wie lang und wie tief man damit kommt.

In einem Interview habe ich von Anna und ihrer Extremsportart gelesen. Und ich habe mich gefragt: Warum macht sie das? Warum setzt sie sich freiwillig dieser Gefahr aus?

Sie antwortet darauf: „Wenn ich unten angekommen bin und die Augen öffne, dann: Wow. Es ist der beste Moment. Ich sehe die Schönheit des Meeres. Ein unfassbares Erlebnis. Dafür mache ich das alles.“

Für mich verbirgt sich hinter diesem kleinen Wörtchen „alles“ eine ganze Menge. Denn auch wenn Anna fast poetisch vom Meeresglitzern im Dunkeln erzählt: Tiefseetauchen ist kein Spaziergang. Die Luft wird im Körper komprimiert, der Herzschlag verlangsamt sich und je tiefer man kommt, desto kälter wird das Wasser. Aber das Schwierigste ist das Wiederauftauchen. Anna schreibt: „Die ersten Meter rauf sind sehr anstrengend, der Körper ist schwer und mit viel Kraft geht es nach oben. Ich sage mir dann: Du schaffst es, du bist stark.“

Als ich das lese, fallen mir Menschen ein, die gerade auch an einem Tiefpunkt sind. Leider keiner, den sie sich selbst ausgesucht haben und der etwas so Faszinierendes wie der im Meer hat. Im Gegenteil. Tiefpunkte, die nur noch runterziehen. Bei denen alles über einem zusammenbricht und bei denen man sich nicht vorstellen kann, irgendwann wieder aufzutauchen. Tiefpunkte wie bei der jungen Frau, die spät in der Schwangerschaft ihr Kind verloren hat. Oder wie bei dem Mann in meinem Alter, der seit über einem Jahr mit dem Krebs in seinem Körper kämpft.

Doch eines haben die Tiefpunkte beim Tauchen und im Leben gemeinsam: es braucht jede Menge Kraft, um nach oben zu kommen. Kraft, um weiterzumachen, auch wenn man gerade nicht mehr weiter weiß. Und es braucht Vertrauen: in mich und in das, was in mir steckt. Aber auch Vertrauen ins Leben. Dass es schon irgendwie weitergehen wird. Auch, wenn es gerade richtig finster ist und die Luft zum Durchatmen weit weg ist.

Eines ist klar: Tiefseetaucherin wie Anna werde ich sicherlich nicht. Aber mich von Tiefpunkten nicht aufhalten lassen, sondern weiterschwimmen, so gut es geht, das kann ich von ihr lernen. Gerade auch in ungewissen Zeiten. In der Hoffnung, dass irgendwann auch in unklaren und trüben Gewässern das helle Türkis der Oberfläche durchschimmert.

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