Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

02MRZ2022
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Ich hasse es, mein Auto freizukratzen. In diesem Winter musste ich das ein paar Mal: Eis auf allen Scheiben rundherum. Einmal bin ich eingestiegen und habe beim Starten erst bemerkt, dass meine Außenspiegel ebenfalls vereist waren. Ich konnte vor lauter Eis nicht nach hinten sehen. Bei beheizten Außenspiegeln erledigt sich das nach wenigen Minuten, doch ich wollte so nicht losfahren, bin ausgestiegen und habe für freie Sicht nach hinten gesorgt.

Während der Fahrt ist mir aufgefallen, dass das ein gutes Bild für viele Familienbeziehungen ist, die ich kennengelernt habe: Im Innenraum ist Wärme. Man ist sich selbst genug in der nächsten Familie und fühlt sich wohl.

Außen aber, in der weiteren Familie, sind die Spiegel vereist: die Streitereien rund ums Erbe, Konkurrenz zwischen Geschwistern, das Empfinden, das schwarze Schaf zu sein, Ungerechtigkeiten, Ablehnung des eigenen Lebensstils, mangelnde Wertschätzung – die Liste ist lang für die Gründe, warum der Blick zurück nicht mehr möglich ist, weil man immer nur das Eis sieht. Ein klares Bild ist unmöglich, immer ist da nur Frost und Kälte. Das Böse, das andere getan haben – niemand weiß mehr so ganz genau, was es war. Man redet nicht darüber und man redet nicht miteinander. Man schaut nicht zurück, denn da ist alles Eis und Minustemperatur.

Wer erlebt hat, dass das Vertrauen in der Familie missbraucht wurde, wird überall misstrauisch. Wo man auch hinschaut, ist da immer nur Eis. Wer erlebt hat, zum schwarzen Schaf gemacht zu werden, fühlt sich leicht ausgegrenzt. Beim Blick zurück ist da immer dieser Frost, der alle Bilder füllt.

Ich finde das schlimm. So behält das, was andere mir angetan haben, Macht über mich. Ich bin in einem Reich des ewigen Winters gefangen, sobald ich zurückschaue. Wie schön wäre es, wenn man dieses Eis einfach wegkratzen könnte, womöglich während der Fahrt!

Und, nein: Ich habe jetzt nicht das Patentrezept dafür, wie man das ganz genau macht. Ich glaube, dass es zuallererst wichtig ist, dass man es merkt. Dass man sieht, dass man nichts sieht, oder immer nur dasselbe.

„Gott, kratz das Eis vom Außenspiegel, bitte!“ – mir hilft es, wenn ich dann bete. Im Vaterunser heißt es: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ – das bedeutet auch nichts anderes als: „Bitte, kratz das Eis weg!“ Wie das genau geschieht, wird unterschiedlich sein. Immer macht es frei. Die Sicht und die Menschen.

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