Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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16FEB2022
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Auf einer Dienstreise habe ich eine psychiatrische Einrichtung in Niedersachsen besucht. Die Einrichtung liegt in einem wunderschönen Park mit altem Baumbestand. Was mich dort am meisten fasziniert hat, ist der Brunnen, der mitten im Park steht. Es ist kein normaler Brunnen, sondern ein Kunstwerk. Einige Patienten haben ihn entworfen. Mit professioneller Unterstützung ist er gebaut worden.

In der Mitte des Brunnens steht ein vier Meter hoher Obelisk auf einem Backsteinquader.
Er ist mit zahlreichen Figuren und Symbolen versehen. Sie bestehen aus Gesichtern, Fratzen und Masken; Münder, Nasen, Ohren, Herzen. Dazwischen sind verschiedene Tiere erkennbar: Seepferdchen, Schaf, Biber, Fisch, Salamander und Schmetterling. Die ineinander verschlungenen Figuren ziehen mich als Betrachterin in ihren Bann. Ich werde nicht müde, genau hinzuschauen und Neues zu entdecken.

Erst nach einer Weile sehe ich einen Schriftzug auf dem Obelisk. ‚Ver-rückt‘ steht da.
Mit einem Gedankenstrich zwischen ‚ver‘ und ‚rückt‘. Dieser Schriftzug gibt dem Kunstwerk eine ganz eigene Prägung. Die Figuren und Symbole laufen ineinander, ver-rücken und verschieben sich gegenseitig. Alltagsgegenstände, Gestirne, Menschen und Tiere sind in ungewöhnlicher Weise miteinander verwoben, passen nicht zusammen, scheinen trotzdem miteinander zu reden und ver-rücken logische Grenzen.

Beim näheren Hinsehen sind die Figuren nicht vollständig. Sie scheinen aus dem Ganzen herausgerissen zu sein und suchen noch ihren Ort.

Und ich denke: Ja, so ist das Leben. Auch für alle, die vermeintlich ‚normal‘ sind: Fragmentarisch, verwundet, und unfertig oft. Das Leben ist nicht immer heil und ganz, sondern brüchig, vernarbt und unvorhersehbar.

Als ich einige Patientinnen und Patienten gefragt habe, wie sie ihr Kunstwerk sehen, hat mir eine Frau geantwortet: „Unser Kunstwerk ist wie das Leben. Es ist wunderbar und schrecklich, fröhlich und traurig, witzig und wild. Und die Figuren auf dem Kunstwerk gehören alle zum Leben dazu, genauso wie wir Patienten alle zum Leben dazu gehören!“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=34830
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