Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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08FEB2022
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Vor einiger Zeit erwähnt meine Freundin im Gespräch: „Mein Bruder liest jetzt mehrere Stunden die Woche in der Bibel.“ Sie macht eine Pause. „Und? Stört dich das?“ frage ich sie. Sie zögert. „Das ist doch sehr ungewöhnlich. Ich finde das schon ein bisschen befremdlich.“

Ich finde das vor allem interessant! Eben weil es ungewöhnlich ist. In ganz vielen Haushalten gibt es wohl eine Bibel, aber darin lesen oder sie womöglich durchlesen? Und auch ich selbst als Theologin nehme die Bibel eher für die Arbeit in die Hand und kaum für mich persönlich. Und so gehen mir die Worte meiner Freundin nicht aus dem Kopf. Nach einigem Zögern kontaktiere ich ihren Bruder. Ich spreche ihn auf das Bibelthema an und frage, ob wir einen Kaffee trinken gehen wollen. Zu meiner Überraschung sagt er zu.

Vor dem Treffen bin ich ziemlich angespannt. Denn kann ich mit einer fremden Person direkt über so ein privates Thema wie den persönlichen Glauben reden? Aber als dann der erste Kaffee vor mir steht, entwickelt sich ein sehr angenehmes Gespräch. Er erzählt: bevor er 50 wurde, hatte er eigentlich keinen größeren religiösen Bezug. Vor einiger Zeit sei nun aber irgendwie die Frage nach dem Sinn des Lebens aufgebrochen. Und die tägliche Nachrichtenlage über die Krisenherde in der Welt, die vielen Naturkatastrophen und natürlich auch die Pandemie lassen die Welt trist erscheinen. Hinzu kommen Erfahrungen im Alltag, in denen er Menschen als gleichgültig oder auch aggressiv erlebt.

Und so wurde für ihn die Frage wichtig: Gibt es einen tieferen Sinn in der Welt? Und dann hat er sich hingesetzt und angefangen in der Bibel zu lesen.

Er sagt: das tut mir gut. Die Bibel verleiht der Welt keinen rosa Anstrich, aber er findet Sinn in ihr. So zum Beispiel in der Glaubensaussage: der Mensch ist von Gott geschaffen und gewollt. Oder: das Leben endet nicht mit dem Tod im Nichts, sondern der Mensch ist nach dem Tod bei Gott aufgehoben.

Ich bin beeindruckt. In einer solchen Situation auf die Idee zu kommen: ich setz mich hin und schau mal, ob und was die Bibel dazu sagt. In heutiger Zeit sicher nicht alltäglich.

Dieses Treffen ist also im wahrsten Sinn des Wortes ein Austausch über „Gott und die Welt“ gewesen. Und da ich es so angenehm gefunden habe, ist mir erst bei der Verabschiedung aufgefallen, dass unsere Verabredung vier Stunden gedauert hat.

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