Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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01FEB2022
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Licht kann unbarmherzig sein. Besonders beim Blick in den Spiegel. Im grellen Licht zeigt sich sofort der Fleck auf meinem Pulli. Die Augenringe sind nicht zu übersehen. Und jede Falte und jede Unreinheit im Gesicht wird überdeutlich ausgeleuchtet. Ja, Licht kann unbarmherzig sein.

Wenn in der Bibel von Gott gesprochen wird, ist oft auch vom Licht die Rede. Gott lässt es hell werden auf der Erde. Und das ist gut so, denn ohne Licht kein Leben. Aber es gibt es auch die Kehrseite. Licht kann entlarvend sein. Wo es richtig hell ist, kann man schwer etwas verstecken.

Gott, so heißt es an einer Stelle in der Bibel, wird alles ans Licht bringen, was im Dunkeln verborgen liegt, und die geheimsten Absichten enthüllen (1. Korinther 4,5). Die Vorstellung ist nicht unbedingt angenehm. Denn auch in meinem Leben gibt es – wie wohl bei jedem – dunkle Ecken, die ich nicht so gerne ausgeleuchtet habe. Besonders beunruhigend wird es dann, wenn man sich vorstellt, dass Gott die dunklen Stellen nicht nur sieht, sondern regelrecht sucht und einen danach beurteilt – und schlimmstenfalls verurteilt. Ich kenne Menschen, die als Kinder mit so einer Vorstellung von einem strafenden Gott aufgewachsen sind, der auch noch den kleinsten Schmutzfleck auf der Weste ans Licht holt. Ihnen hat das Angst gemacht. Und manche haben sich deshalb ganz von der Kirche und dem christlichen Glauben abgewandt.

Ich stelle mir Gott anders vor. Ja, in der Bibel ist davon die Rede, dass Gott alles ans Licht bringt – und zwar nicht nur, was war, sondern durchaus auch, wie es war. Ich stelle mir das vor wie einen Blick in den Spiegel. Aber nicht einen Spiegel von der Sorte, der grell und unbarmherzig die Problemzonen ausleuchtet und mich rundum schlecht aussehen lässt. Sondern einen Spiegel, der in ein freundliches Licht getaucht ist. In dem sehe ich beides: Das, was gut an mir ist – das tut mir gut. Und das, was nicht stimmt – das zu wissen, ist auch wichtig.

In diesem milden Licht muss ich nichts verstecken und kann alle meine Seiten ohne Scheu betrachten. Wenn etwas nicht in Ordnung ist, dann sehe ich es und kann es vielleicht beheben oder verbessern. Oder zumindest besser damit umgehen. 

Ja, bei Gott kommt alles ans Licht. Aber sein Licht ist ein warmes Licht. Es macht mir Mut, mich so anzusehen wie ich bin. Und es hilft mir, nicht nur mich selbst, sondern auch die anderen neu zu sehen. In einem freundlichen Licht.

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