SWR2 Wort zum Tag

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01FEB2022
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Wenn jetzt die Tage langsam wieder heller werden, tut mir das rundum gut. Ich genieße es ganz bewusst schon, wenn ich morgens zur Arbeit fahre und den Sonnenaufgang erlebe.

Das Bild der aufgehenden Sonne stimmt positiv und wurde deshalb auch zum Symbol für Jesus, der den Tod überwindet, wie die Sonne die Nacht. Aber um das 16. Jahrhundert wurde die aufgehende Sonne auch zu dem Symbol schlechthin für das Projekt der Aufklärung. Es waren anfangs vor allem religiöse und theologisch gebildete Menschen wie Immanuel Kant oder Ephraim Gotthold Lessing, die den menschlichen Verstand als Geschenk Gottes begriffen haben, das das Licht der Wahrheit in die Welt bringt – ähnlich wie der Glaube. Oder eben wie die Sonne. Sie haben deshalb betont, dass jeder Mensch eigenständig ist, weil er einen Verstand hat und denken kann.

Mir gefällt an diesem Projekt das Grundvertrauen, das darin steckt. Denn immerhin trauen die Vertreter der Aufklärung es ja jedem Menschen zu, dass er dieses Licht des Verstandes benutzen kann. Ich bin deshalb auch als Christ ein Anhänger der Aufklärung. Ich bin sogar eher davon überzeugt, dass es auch im Sinne Gottes ist, sonst hätte er uns ja nicht mit dem Verstand ausgestattet.

Aber ich sehe auch deutlich das Kritische dieses Ideals. Denn der Verstand des einzelnen hat seine Grenzen. Und ich kann die Wahrheit nicht erkennen, wenn ich denke, dass ich alleine alles wissen und verstehen kann. Das macht mir vor allem aktuell Sorgen, weil ich so oft Menschen sehe, die ihre eigene Meinung und ihre begrenzte Sicht schon als die Wahrheit schlechthin sehen. Und ich habe den Eindruck, dass ihre Meinung nicht nur auf Vernunftargumenten basiert, sondern dass das eine Rolle spielt, was sie ängstlich macht.

Und dazu kommt, dass wir alle bei der Meinungsbildung begrenzt sind. Ich sehe diese Grenzen bei mir ja auch. Es passiert so leicht, dass ich im Internet oder in der Zeitung nur die Artikel lese oder nur denen zuhöre, die das bestätigen, was ich eh schon denke. Und wenn ich Menschen treffe, die anders denken als ich, fange ich sofort an, meine Position zu verteidigen.

Stattdessen könnte ich doch versuchen, dass ich mit Verstand zuhöre und nachvollziehe, was die sagen, die anderer Meinung sind als ich. Ich bin überzeugt, dass wir so der Wahrheit eher nahe kommen. Und wenn die Wahrheit wie die Sonne ist, die ich morgens aufgehen sehe, dann kann mein Verstand eben manchmal nicht die ganze Sonne aufnehmen, sondern nur ein paar Strahlen. Aber wenn ich bereit bin, die Strahlen zu sehen, die bei den anderen ankommen, dann wird mein Leben noch heller.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=34708
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