Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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22JAN2022
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Zahlen bestimmen unser Leben. Inzidenzrate und Impfquote sind zu alltäglichen Begleitern geworden, so verlässlich abzurufen wie der Wetterbericht. Dazu die Auslastung aller Intensivstationen im Land in Prozentzahlen. Warum hören wir uns das jeden Abend an? Vielleicht, weil diese Zahlen uns vermitteln: Was sich berechnen lässt, ist auch berechenbar. Irgendwie soll sie wohl beruhigen, diese Zählerei. Vielleicht sind wir inzwischen aber auch alle ein bisschen zahlenblind geworden.

Ich erinnere mich an eine Aktion der New York Times aus dem ersten Jahr der Pandemie. Da hat die Zeitung auf ihrer Titelseite tausend Namen veröffentlicht. Tausend Namen von Menschen, die im Zusammenhang mit dem Coronavirus gestorben sind. Nun ist tausend auch nur eine Zahl, aber Sie können ja einmal überlegen, wie viele Menschen Sie mit Namen kennen, wenn Sie alle zusammenzählen: Familienmitglieder, Kolleginnen, nahe und entferntere Bekannte, ein paar Promis: Wahrscheinlich reichen Sie nicht an die Tausendermarke heran.

Tausend Namen: Wichtig an der ganzen Geschichte ist aber gar nicht die große Zahl, wichtig sind die Namen. Aus Nummern werden wieder Menschen. Menschen mit einem Namen. Und einer Geschichte. Die Namen stammen aus veröffentlichten Nachrufen und zu jedem Namen war noch ein kurzer Satz über die verstorbene Person angefügt: Joseph gab seinen Beruf auf, um sich um seine Eltern zu kümmern. Lynn war eine Großmutter voller Ideen. Marilyn hinterlässt vier kleine Kinder.

Und nun stellen Sie sich einmal vor, die Nachrichtensprecherin würde anstatt ihrer Zahlen jeden Abend die Namen der Verstorbenen vorlesen. Die Namen der Menschen, die auf den Intensivstationen liegen. Die Namen derer, die genesen sind. Und hinter ihr auf dem Bildschirm erschiene statt statistischer Kurven das Foto eines Menschen.

In Deutschland hat es vergleichbare Aktionen gegeben wie die aus der New York Times. Auf Marktplätzen wurden Kerzen angezündet. Für jeden Toten ein Licht. In einer Kirche wurden Nägel in ein Kreuz auf dem Boden geschlagen: Für jeden Toten ein Aufschrei. Alle verfolgen sie dasselbe Ziel: Sichtbar, erfahrbar zu machen, was sich hinter nackten Zahlen verbirgt: In jedem Menschen eine ganze Welt.

„Ich habe dich bei deinem Namen gerufen.“ Das ist für mich einer der schönsten Sätze, die Gott in der Bibel spricht. Ich kann ihn nicht oft genug hören. Du bist für mich nicht nur eine Nummer. Ich weiß, wie du heißt. Ich kenne deinen Namen. Ich vergesse dich nicht.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=34691
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