Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

20JAN2022
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Heute vor einem Jahr hat Joe Biden seine Amtszeit als 46. Präsident der USA angetreten. In Erinnerung geblieben ist mir von der ganzen Veranstaltung aber eine andere Person. Ich sehe sie noch genau vor mir: Jung ist sie und schön und von natürlicher Eleganz. An diesem Tag trägt sie gelb und rot. Sonnenfarben. Aber das Leuchten kommt auch von innen. Kein Schweinwerfer kriegt so was hin. Was sie sagt, unterstreicht sie mit nachdrücklichen Gesten ihrer langgliedrigen Finger. Als hätte sie nie auf einer anderen Bühne gestanden, sind die Augen der ganzen Welt auf sie gerichtet. Schwarz ist sie auch, diese jugendliche Poetin, ein dünnes schwarzes Mädchen, wie sie von sich sagt, das von Sklaven abstammt und von einer alleinerziehenden Mutter großgezogen wurde.  Amanda heißt sie, die Liebende, Amanda Gorman.

Wenn ich die Fotos von diesem Auftritt nach einem Jahr wieder anschaue, erinnern sie mich an ein biblisches Bild: Jesus steht auf einem Berg. Auch er leuchtet. Viele Menschen sind um ihn versammelt und hängen an seinen Lippen. Und er sagt ihnen: „Ihr seid das Licht der Welt. Verbergt es nicht! Habt keine Scheu! Lasst es leuchten vor den Menschen. Traut euch!“  Und wie einen Kommentar zu diesem Satz aus der Bergpredigt höre ich Amanda Gorman in ihrer Rede sagen: „Wenn der Tag kommt, treten wir aus dem Schatten heraus, entflammt und ohne Angst. Die neue Morgendämmerung zieht auf, wenn wir sie befreien. Denn es gibt immer Licht, wenn wir nur mutig genug sind, es zu sehen, wenn wir nur mutig genug sind, es zu sein!“

Die Geschichte der Schwarzen in Amerika kann einen wirklich verzweifeln lassen. Jedes Jahr kommen wieder neue Details von alltäglichem, tief verwurzeltem Rassismus und brutaler Gewalt ans Licht der Öffentlichkeit. Schwarze Eltern raten ihren Kindern, sich unsichtbar zu machen. Sich nicht zu wehren. Stillzuhalten. Das sei die beste Überlebensstrategie.

Amanda Gorman ist für mich ein echter Lichtblick. Mit ihren mutigen Worten. Mit ihren Bildern von biblischer Kraft. Mit ihrem Glauben an eine bessere Zukunft. In ihren Worten klingt das so: „Die Heilige Schrift sagt uns, dass wir uns vorstellen sollen, dass jeder unter seinem eigenen Weinstock und Feigenbaum sitzen soll und keiner einem anderen Angst machen soll. Wenn wir Barmherzigkeit mit Macht verschmelzen und Macht mit Recht, dann wird Liebe unser Vermächtnis und Veränderung das Geburtsrecht unserer Kinder sein!“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=34689
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