Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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18JAN2022
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Wer da bedrängt ist, findet Mauern, ein Dach, und muss nicht beten.
Das hat Reiner Kunze geschrieben. Über ein Pfarrhaus in der DDR. Der Satz hat mir immer gefallen.  Inzwischen wohne ich selbst in einem Pfarrhaus. Mit Mauern und einem Dach. Es klingelt oft an der Tür. Meistens am Freitagnachmittag. Dann sind alle Ämter geschlossen; die meisten Beratungsstellen auch. Und ein langes Wochenende steht bevor. Durch den Spion sehe ich einen unbekannten Mann vor der Tür. Nicht eben gepflegte Erscheinung. Ich frage mich, ob ich zuhause bin.

Es klingelt noch einmal. Ich seufze, öffne, und der Mann fragt: „Ist der Herr Pfarrer nicht da?“  Ich antworte: „Nein, tut mir leid, der Herr Pfarrer ist nicht da.“ Und das ist nicht einmal gelogen. Aber dann höre ich mich weiterreden: „Aber ich bin die Pfarrerin. Kann ich Ihnen helfen?“ Warum habe ich das gesagt? Warum nicht einfach die Tür wieder zugemacht? Stattdessen habe ich ihn geradezu eingeladen, mir seine Geschichte zu erzählen. Eine abenteuerliche Geschichte, immer nach dem gleichen Strickmuster - kein Wort davon dürfte wahr sein: Er müsse zum Arzt, oder schnell zu seiner Schwester ins Ausland, oder Geld für eine Beerdigung auftreiben. Während er redet, zieht es eiskalt durch die Tür ins Pfarrhaus, hinter die dicken Mauern. Einen Stock höher, unterm sicheren Dach, wartet mein Schreibtisch auf mich. Die Bibel, die Predigtvorbereitung.

„Nein“, muss ich dem Mann sagen, Bargeld kann ich ihm nicht geben, und eine Fahrkarte nur für die Straßenbahn in die Stadt. Oder einen Einkaufsgutschein für den Supermarkt um die Ecke. Er schaut mich verständnislos an. Und tischt mir eine neue Variante seiner Geschichte auf. Er müsse unbedingt weg von hier. Und das Geld würde er zurückzahlen - ganz sicher - mit Zinsen. Er redet ohne Unterbrechung.  Ich bereite meinen Rückzug vor. Er wird mir nicht den Gefallen tun, sich abspeisen zu lassen. Mit einem Butterbrot und einem Apfel. Er wird da stehen bleiben und reden. Und ich werde ihn stehen lassen. Die Tür vor seiner Nase zu machen. Vielleicht sogar, während er noch spricht. Nach neuen Erklärungen sucht, die mich vielleicht doch noch überzeugen. Oder auch nur am Weggehen hindern. Zurück hinter die dicken Mauern. Unter das schützende Dach. Wer da bedrängt ist, findet Mauern, ein Dach. Und muss nicht beten: „Komm, Herr Jesus, sei du unser Gast…“

Der hatte kein Pfarrhaus. Keine Mauern. Kein Dach. Sprach trotzdem: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“ Keine Vertröstungen. Keine Ausflüchte. Keine Alternativangebote. Keine Gutscheine. Nur Gutes und Barmherzigkeit.
Wer da bedrängt ist, findet Zuflucht und darf bleiben. Im Hause des Herrn. Immerdar.

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