SWR4 Abendgedanken

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20JAN2022
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Finnland hat es fast geschafft. Dort gibt es nur noch 4.000 Menschen, die obdachlos sind. In Deutschland sind es im Moment fast eine Million! In Finnland leben zwar deutlich weniger Menschen als bei uns. Trotzdem:  Mich beeindruckt, wie die Finnen mit dem Thema Obdachlosigkeit umgehen. Sie haben vor 15 Jahren ein Konzept entwickelt. Es heißt „Housing first“. Und bedeutet: Jeder Mensch, der möchte, bekommt eine Wohnung. Ohne dass er zuvor irgendwelche Auflagen erfüllen muss. Er muss nicht zuerst einen Arbeitsplatz finden oder eine Entziehungskur machen. Einer der Verantwortlichen für das Konzept sagt: „Wir haben erkannt, dass es nichts bringt, Menschen in Not unter Druck zu setzen. Sie brauchen bedingungslose Hilfe und eine Wohnung.“[1] Mir leuchtet das ein. Denn wer täglich neu einen Schlafplatz suchen muss, unterwegs ist, um Pfandflaschen zu sammeln oder etwas zu essen zu organisieren, der hat keine Energie mehr, diesen Teufelskreis zu verlassen.

Vor 15 Jahren habe ich selbst miterlebt was passiert, wenn dieses Prinzip angewendet wird: Housing first!  Auch wenn die Initiative damals natürlich nicht so geheißen hat. Ich bin unterwegs gewesen in Argentinien, mit einer Gruppe unserer Kirchengemeinde. Wir haben das Dorf besucht, in dem mit Spendengeldern Häuser errichtet wurden. Denn viele Einwohner hausten zu diesem Zeitpunkt in Wellblechhütten im Dreck, ohne Toiletten oder fließendes Wasser. Nachdem unser Pfarrer das Haus einer großen Familie gesegnet hatte, sagte die alte Mutter zu uns: „Ihr habt uns unsere Würde zurückgegeben.“ Mich hat dieser Satz damals beeindruckt. Und er hat mir klar gemacht, dass das zusammenhängt: sich als Mensch würdig zu fühlen und ein Dach über dem Kopf zu haben.

Bis 2027 soll in Finnland niemand mehr auf der Straße leben müssen. Bemerkenswert bei diesem Ziel: Es ist die Regierung, die Hilfsorganisationen auffordert, das umzusetzen. In den meisten Ländern ist das genau umgekehrt.

Ich hoffe sehr, dass die Politik in Deutschland jetzt endlich aktiv wird. Und es ermöglicht, dass dringend benötigter Wohnraum für so viele Menschen entstehen kann. Es wird ganz sicher ein langer Weg, bis auch bei uns jeder ein Dach über dem Kopf hat, der das möchte. Aber das muss das Ziel jeder Gesellschaft sein. Denn jeder Mensch besitzt eine unveräußerliche Würde. Die muss er sich durch nichts verdienen.

 

[1]Obdachlos in der Corona-Pandemie: Der Mann, der Obdachlosigkeit in Finnland abschafft - DER SPIEGEL,  23.04.2021

https://www.kirche-im-swr.de/?m=34676
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