SWR4 Abendgedanken

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19JAN2022
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Letzte Woche habe ich einen ungewöhnlichen Brief geschrieben. An einen Menschen, dem ich nur einmal kurz über den Weg gelaufen bin, letzten Sommer. Dieser Brief ging an den Lehrer meines Sohnes. Beigelegt habe ich eine kleine Geschichte – über ihn, meinen Sohn und mich. Als Dankeschön. Sie geht so:

Ich mache mich auf den Weg, im schicken Sommerkleid. Die Stadt ist mir fremd, die Menschen auch. Von ein paar wenigen Freunden meines Sohnes kenne ich die Namen; heute lasse ich mir von ihm die Gesichter dazu zeigen. Auf den ersten Blick alles nette Jungs, schwarze Hose, weißes Hemd, viele sind groß und sportlich. Sie alle haben in diesem Sommer das Abitur gemacht; heute Nachmittag ist Zeugnisübergabe. Er hat sich gewünscht, dass ich dabei bin.

Die Rolle des Besuchers, des Fremden an diesem Tag, ist normalerweise die Rolle der Väter, wenn die Kinder nach der Trennung bei der Mutter bleiben. Und der nur in Ausschnitten erlebt, wie sein Kind aufwächst, mit welchen Freunden es um die Häuser zieht, wie es mit der Schule hadert und in welcher Nacht es den ersten Rausch nach Hause bringt. Heute bin ich die Fremde, stellvertretend für Viele. Väter und Mütter. Für viele, die Kinder aus den unterschiedlichsten Gründen loslassen, die einen früher, die anderen später.

Ich habe meinen Sohn im Alter von 11 Jahren ziehen lassen. Wenn ich an seine Worte damals denke, dann bewegt mich das noch heute. Er hat zu mir gesagt, es sei unfair, wenn alle drei Kinder bei mir wären und keines bei Papa. Er hat es ruhig und überlegt gesagt, mit seinem großen Gerechtigkeits-Herzen. Ich konnte gar nicht anders, als ihn gehen zu lassen. Mit großer Achtung vor diesem kleinen Jungen. Und: mit Gottvertrauen.

Vielleicht war es dieses Gottvertrauen, das uns durch die Jahre getragen hat. Wir haben beide unseren Part so gut wir konnten erfüllt – und beim Rest auf Gott vertraut. 

Als Leistungsfach in seinem Abitur hat mein Sohn Religion gewählt. Der Religionslehrer ist gleichzeitig zwei Jahre lang sein Tutor gewesen. Die Dankesrede des Kurses für ihren Lehrer beeindruckt mich: Er war immer für sie da, er hat sie in allen Lebenslagen motiviert. Auf seine Unterrichtstunden haben sie sich gefreut, obwohl sie am Nachmittag lagen. Er hat sie zu sich nach Hause eingeladen und ihnen beigebracht, wie man von Hand schwäbische Spätzle schabt. Während Corona hat er seinen Schülern nicht nur Kopien ausgeteilt; er hat persönliche Mails geschrieben mit inspirierenden Texten, er hat Briefe in ihre Briefkästen geworfen. Sie bezeichnen ihn als ihr Vorbild. Soweit die Geschichte.

Vielleicht heißt Gottvertrauen auch: darauf hoffen zu dürfen, dass so ein Mensch, wie dieser Lehrer im richtigen Augenblick da ist.

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