SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

18JAN2022
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Manchmal zweifle ich, ob es einen Gott gibt. Einen, der mich im Blick behält? Eine übergeordnete Instanz, an die ich mich wenden kann?  Und falls doch bleibt die Frage, wie ich mich Gott nähern kann. Ich spüre eine große Spannung: Da ist auf der einen Seite mein Denken, das sich immer wieder versucht gegen die Existenz eines Gottes zu wehren, weil es ihn nicht kennt. Und gleichzeitig strecke ich auf der anderen Seite meine Hand nach ihm aus. Weil ich mir sehnsüchtig wünsche, dass ich meine Fragen, Bitten und Gebete an ihn adressieren kann, dass sie bei ihm aufgehoben sind. Dass ich selbst bei ihm aufgehoben bin.

Wer oder was ist dieser Gott? Wo taucht er in meinem Leben auf, so dass ich ihn bemerke? Wenn es mir schwerfällt Gott, in meinem Leben zu spüren, dann halte ich mich an eine Art „Vorlage“: Der Schriftsteller und Philosoph Hans-Magnus-Enzensberger glaubt eher weniger als mehr an einen Gott. Trotzdem scheint auch er die Idee, dass es da jemanden gibt, nicht ganz zu verwerfen. Er hat ein berühmtes Gedicht geschrieben mit dem Titel „Empfänger unbekannt“. Hauptthema ist eine Art Lebensdank. Für alles. Zum Beispiel dankt er „für den Anfang und das Ende und die paar Minuten dazwischen“. Für „die vier Jahreszeiten“. Oder für „die Begierde und das Bedauern“. Auch die Alltagsdinge sind ihm ein Anliegen: Er dankt für den Bordeaux, das Koffein und für warme Winterstiefel. Bei wem er sich bedankt, das lässt er offen. So, wie es der Titel des Gedichts klar ausdrückt: „Empfänger unbekannt“. 

Wenn ich das Gedicht von Enzensberger mit meinem Dank fortsetzen wollte, dann könnte ich heute anfügen: Ich danke für den wunderbaren Duft von frischen Zimtschnecken im Haus. Für die Sonne am Morgen. Vielen Dank auch für meine Zweifel; und für den Frieden zwischen den Kindern. Danke für das Thermalwasser und die Lust am Lesen.

Wenn es mir gelingt auf diese Weise zu danken, dann klingt das für mich schon wie ein halbes Gebet. Mehr noch: Ich glaube, je mehr ich es schaffe, für all jene Dinge zu danken, auf die ich selbst keinen Einfluss habe, desto mehr bin ich fähig zu glauben: Und zwar, dass es jemanden gibt, der Grund für meinen Dank ist. Grund und somit Adressat. Und da liegt mir Gott als Empfänger näher als der Unbekannte.

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