SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

05JAN2022
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

„Habt euch alle lieb“, oder „Gott liebt uns alle und verzeiht uns sowieso“. Manchmal habe ich den Eindruck, dass die christliche Lehre auf solche Sätze reduziert wird. Ich habe nichts gegen diese Sätze, sie sind mir zwar ein bisschen zu banal, aber natürlich sind die Nächstenliebe und die göttliche Gnade wichtige Eckpfeiler des Christentums. Sie sind zurecht der Grund dafür, dass das Christentum Weltreligion werden konnte. Und auch wesentliche Grundbegriffe für die Aufklärung.

Ich will das alles gar nicht schmälern. Wenn es aber im Christentum ausschließlich um die Soziallehre und die Moral geht, damit tue ich mich schwer.

Es gibt noch andere Aspekte des Christentums, von denen zu wenig gesprochen wird, wie ich finde. Das mag zunächst daran liegen, dass es dabei um Dinge geht, die man kaum ausdrücken kann. Denen wir uns sprachlich immer nur annähern können. Ich meine die Erfahrung des Göttlichen. Man kann das Mystik nennen oder Spiritualität. Es geht um Erfahrungen, die unseren Verstand übersteigen. Die über unsere Sinneswahrnehmung hinausgehen. Erfahrungen und Ahnungen, die (in der Religion) in dem Wort Gott zusammenfasst sind. Und das Christentum hat einen reichen Vorrat an Versuchen und Vorschlägen, dieses Wort Gott zu entschlüsseln.

Vor Kurzem habe ich mit einem Freund hierüber gesprochen und er sagte bloß: „Andi, lass das Theologengestammel, es gibt Wichtigeres, komm aus Deiner Blase“.

Vielleicht hat er recht gehabt. Vielleicht sind alle Versuche Gott oder das Wunder unseres Daseins zu enträtseln letztendlich nur Gestammel. Aber ich glaube, es ist Gestammel, das uns alle angeht. Ob ich Christ bin oder nicht, ob ich religiös bin, oder nicht. Denn ich nehme durchaus wahr, dass sich immer mehr Menschen vom Christentum und der Kirche entfernen. Genauso nehme ich jedoch wahr, dass es ein großes Bedürfnis nach Spiritualität gibt. Viele Menschen wollen sich mit der eigenen Existenz auseinandersetzen, die eigene Person öffnen und sich weiterentwickeln. Aber immer mehr greifen dabei auf fernöstliche Traditionen zurück, oder schließen sich spirituellen Lehrern im Internet an. Dabei hätte das Christentum hier so viel mitzureden.

Ich hoffe, dass auch diese Seite meiner Religion wieder mehr zur Sprache kommen wird. Auch wenn das noch eine Weile dauern kann. Derzeit sind die Kirchen vielerorts zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Damit, was passiert, wenn man den eigenen moralischen Ansprüchen nicht gerecht werden kann. Moral und Ethik sind wichtig, keine Frage. Aber es gibt Situationen und Bereiche, da ist es besser den Zeigefinger zurückzuhalten und ein bisschen zu stammeln.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=34541
weiterlesen...