Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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27DEZ2021
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„Wir haben schon lange nicht mehr angestoßen.“ Kaum ist dieser Satz gesagt, klingen auch schon die Gläser. Zumindest dann, wenn die Corona-Lage es zulässt. Kreuz und quer geht es über den Tisch. Da kann man schon mal den Überblick verlieren und irgendwann fragt immer jemand: „Haben wir schon?“

Egal ob Anstoßen noch angesagt ist oder nicht – in diesem Freundeskreis ist es ein festes Ritual, und mehrmals am Abend kommen wir durch das Klingen der Gläser in Kontakt zueinander. Ich finde das etwas sehr Schönes: Allen, die am Tisch sitzen, einmal direkt in die Augen zu schauen. Sich nah und verbunden zu fühlen.

All das passt zum heiligen Johannes. Und zu dem Brauch, den es heute, an seinem Gedenktag gibt. Denn in der katholischen Kirche wird heute Wein gesegnet, den man dann mit der Familie und Freunden trinkt. Den sogenannten „Johanneswein“. Und dazu gibt es sogar noch einen Trinkspruch: „Trinke die Liebe des heiligen Johannes.“ Für sich genommen klingt der Spruch merkwürdig, aber wenn ich mir das Leben von Johannes anschaue, wird mir manches klarer. Bei Johannes handelt es sich nämlich um einen der Freunde Jesu, der eine ganz besondere Beziehung zu ihm hatte. In der Bibel heißt es sogar, er ist der Jünger, den Jesus liebte, also besonders mochte (Joh 20,2). Diese Liebe spürt Johannes ganz enorm, und ich denke, sie gibt ihm auch die Kraft, bei Jesus zu bleiben, als der stirbt. Diese Liebe ist stark und trägt.

Der Brauch soll dazu dienen, dass man sich dieser Liebe immer wieder bewusst wird. Bei jeder Gelegenheit, oder zumindest dann, wenn man mit dem Wein anstößt. Dann könnte im Kopf ein Satz sein wie: „Ich bin gemocht - von den Menschen, mit denen ich gerade zusammen bin und von Gott.“ Und weil es nicht nur am Johannestag, sondern auch an anderen Tagen im Jahr gut tut, daran erinnert zu werden, bewahrt man den Johanneswein auch für andere Gelegenheiten auf: falls jemand auf eine lange Reise geht, für ein Paar, das heiraten wird oder auch für den Moment, wenn ein Mensch stirbt. Dann trinkt man ein Glas in der Hoffnung, dass die Liebe sogar den Tod übersteht und man sich im Himmel wiedersehen wird.

Mir gefällt dieser Brauch – nicht nur, weil ich gerne ein Glas Wein trinke. Sondern vor allem, weil mich die Zusage, geliebt zu sein, innerlich stärkt, und ich dann auch anderen ein wenig offener und herzlicher begegnen kann. Daran möchte ich heute Abend denken, wenn ich zu Besuch bei meinen Eltern bin, und wir zum Essen ein Glas Wein trinken. Und auch wenn ich das nächste Mal wieder mit meinen Freunden anstoßen kann.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=34528
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