SWR2 Wort zum Tag

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02DEZ2021
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Jetzt, wo es nachts Minusgrade hat, sehe ich ihn wieder häufiger: den Obdachlosen, der sein ganzes Hab und Gut in drei alten Plastiktüte am Lenker seines Fahrrads durch die Stadt schiebt. Er trägt einen speckigen, dunkelblauen Anorak, der am rechten Ellenbogen ein großes Loch hat. Auch der Reißverschluss schließt nicht mehr richtig, so dass ich darunter einen ausgewaschenen, grauen Pulli sehe. Als der Mann langsam an mir vorbeigeht, schaut er stur geradeaus – nimmt er die Menschen um sich herum überhaupt noch wahr?

Mir wird schon beim Zusehen kalt und zugleich wird mir auch eng ums Herz. Ein Bibelvers kommt mir in den Sinn: „Meine Seele ist fröhlich in meinem Gott; denn Gott hat mir die Kleider des Heils angezogen und mich mit dem Mantel der Gerechtigkeit gekleidet.“ Das schreibt der Prophet Jesaja vor gut zweieinhalb tausend Jahre. Was würde dieser Satz für heute bedeuten? Ich stelle mir vor, wie Gott dem obdachlosen Mann auf der Straße entgegenkommt, mit dem Mantel der Gerechtigkeit unterm Arm. Dieser Mantel ist gut gefüttert. Gott gibt dem obdachlosen Mann den Mantel und hält sein Fahrrad, während der Mann ihn sich langsam anzieht. Als der Reißverschluss bis oben hin geschlossen ist, kann man förmlich sehen, wie dem Mann wärmer wird. Und dann schaut Gott den Mann freundlich an und fragt, wie es ihm geht. „Ach“, sagt der Mann, „Mir ist so kalt, dass ich sogar abends kaum warm werde. Und es ist mir auch peinlich, dass ich so rumlaufe. Dann gucken die Menschen immer so komisch. Toll, dass Sie mich jetzt einfach mit mir reden“, und ganz langsam beginnt er dabei zu lächeln. Ich denke mir: Ob dieses Gespräch so etwas wie das „Kleid des Heils“ ist, in das Gott diesen Mann gerade einhüllt? Jedenfalls wird seine Seele fröhlich, nun, wo er so gut gekleidet ist.

Ich stelle mir vor: Wie wäre es, wenn Gott heute Morgen bei mir vorbeikommt, mit einem Kleid des Heils und einen Mantel der Gerechtigkeit unterm Arm? Das Kleid des Heils würde sich warm und weich anfühlen, so dass ich ganz ausgeglichen in den Tag starte. Wäre der Mantel der Gerechtigkeit vielleicht knallrot? Dann würde ich direkt loslaufen und an einer Demonstration teilnehmen für die bessere Bezahlung von Pflegekräften in unseren Krankenhäusern. Oder wäre er eher hellgrau, weil ich ganz unauffällig dafür spende, dass es mehr Unterstützung für Obdachlose gibt?
Vielleicht mögen auch Sie sich überlegen: Welche Farbe hätte der Mantel der Gerechtigkeit, den Gott für Sie heute Morgen aussucht? Und wie fühlt es sich wohl an, in ein Kleid des Heils gehüllt zu sein?

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