SWR2 Wort zum Tag

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01DEZ2021
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Eine Vision des Propheten Sacharja berührt mein Herz. Der Prophet stellt sich vor, dass alte Menschen friedlich auf den Plätzen der Stadt sitzen, Kinder spielen um sie herum. Ein Bild des Friedens, das in vielen Gegenden der Welt überhaupt nicht selbstverständlich ist. So auch nicht zu Zeiten des Propheten.

Alte und Kinder sind die ersten Opfer von Unfrieden, auch von sozialem Unfrieden. Die einen sind noch nicht in der Lage, für sich zu sorgen, die anderen nicht mehr. Im Krieg können Erwachsene sich gegebenenfalls verteidigen, Kindern und Alten bleibt oft nur die Flucht oder der Tod.

So lange ist das hier in Deutschland auch nicht her, dass Menschen fliehen mussten. Manche Ältere erinnern sich bis heute noch mit Schrecken an den furchtbaren, eiskalten Winter 1944/45 und an ihre Flucht aus dem Osten. Von ihren Mitmenschen wurden sie nicht überall willkommen geheißen. „Die Kartoffelkäfer und die Flüchtlinge werden wir nicht mehr los“ – so hat es mein Onkel gehört, der aus Schlesien fliehen musste. Wie kränkend das klingt, und schlimmer noch: Es war genau so gemeint. Mein Onkel hatte Glück. Er fand eine neue Heimat und eine große Liebe mit der Tochter des Bauern, der ihm damals Arbeit gegeben hatte. Sein Haus war dann immer gastfreundlich. Er hatte die Flucht nicht vergessen.

Die Vision des Propheten vom friedlichen Miteinander ist jedoch nicht nur ein Hoffnungsbild für Alte und Kinder in Kriegszeiten. Die prophetische Vision ist auch etwas für erwachsene Menschen, die sonst gut für sich sorgen können – außer vielleicht für ihre zarten Seiten. Viele Erwachsene sehnen sich danach, ihre empfindsamen Seiten zu zeigen, einmal schwach sein zu dürfen. Viele wünschen sich spielerische Leichtigkeit, sie vermissen Freiräume, um unbefangen, Schutzräume, um vertrauensvoll leben zu können. Sicher ist es kein Zufall: Diese Sehnsucht spüren sie gerade im Advent besonders deutlich.

Die Vision des Propheten macht Mut, sich diese Sehnsucht zu bewahren. Sowohl die Sehnsucht nach dem Frieden in der Welt als auch die Sehnsucht nach den eigenen zarten Seiten. Denn außen und innen gehören zusammen.

Ich stelle mir vor, in diesem Advent auf der Spur dieser Sehnsucht zu sein. Gemeinsam mit allen, die die Hoffnung noch nicht aufgegeben haben. Auf dem Weg zu einem Frieden, der allen Menschen gilt, auch den Alten, Schwachen und Kleinen, auch denen, die sich danach sehnen, sich zart und verletzlich zeigen zu dürfen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=34379
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