Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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02DEZ2021
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Ich habe fast zwanzig Jahre in Ostdeutschland gelebt. Am Anfang habe ich mich dort auf seltsame Art fremd gefühlt, weil vieles so anders war, obwohl wir ja alle die gleiche Sprache sprechen. Und so richtig ‚fassen‘ konnte ich dieses ‚Andere‘ auch nicht.

Zuerst wollte ich das nicht so richtig wahrhaben. Wenn mir was seltsam vorgekommen ist, hab ich das oft beschwichtigt oder weggeschaut. Zum Beispiel bei der Wut, die mir manchmal von Leuten entgegengekommen ist, einfach weil ich Wessi war.

Aber dann habe ich eine Handvoll Leute so richtig kennengelernt, und da ist mir klargeworden: diese Menschen haben so heftige Geschichten hinter sich. Was ich da gehört habe, hat mich manchmal beschämt und manchmal auch einfach zum Staunen gebracht. 

Da ist zum Beispiel Mareike, die Lehrerin. In den 90er-Jahren, direkt nach der Wende, hat es für sie keinen gültigen Lehrplan gegeben und keine passenden Schulbücher mehr. Sie und ihre Kollegen haben sich in Windeseile in die neue Welt eingearbeitet, weil sie ihre Schüler gut aufs Abitur vorbereiten wollten. Eine Welt, die sie selbst noch nicht kannten.

Und Sascha, Mareikes Mann. Er hat eine Firma gegründet, obwohl er keine Ahnung von Kapitalismus hatte – und ist erst mal unter die Räder gekommen.

Meine Nachbarn: dreimal haben sie ihr Arbeitsleben komplett umgekrempelt. Jedes Mal wieder arbeitslos. Jedes Mal von vorn angefangen.

Als ich ihre persönlichen Geschichten gesehen habe, hat das gleich etwas von dieser Fremdheit genommen. Die Menschen sind mir in ihren Geschichten näher gerückt. Und auch wenn mir diese Geschichten fremd waren, ich habe gemerkt: es hilft mir, wenn ich erst mal akzeptiere, dass es so ist. Und mich für das interessiere, was mir da so fremd ist.

So ein Gefühl von: ‚Ich verstehe dich nicht‘ und dass ich mich dem anderen fremd fühle, das gibt es ja öfter. Obwohl Menschen sich eigentlich nahe sein könnten, weil sie miteinander oder nebeneinander leben. Ich denke da zum Beispiel an die Oma, die ihren Enkel nicht mehr versteht. Weil seine Welt eine ganz andere ist als ihre. Oder ich denke an die Muslima im Haus gegenüber, die ich morgens auf dem Weg zur Arbeit immer sehe. Auch wir sind einander fremd, obwohl wir in derselben Straße leben.

Jede und jeder hat seine spezielle Geschichte, die ihn oder sie prägt. Und wenn ich jemanden auch noch so oft sehe, solange ich seine Geschichte des Lebens nicht kenne, weiß ich nicht, was dahinter steckt. Wenn ich das erst einmal sehe und auch akzeptieren kann, wird der Weg frei, die anderen richtig kennenzulernen. Und im besten Fall dabei auch die eine oder andere Freundschaft zu finden.

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