SWR3 Gedanken

SWR3 Gedanken

02DEZ2021
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Er ist so nett. Und sie ist so unsicher. Sie gerade mal siebzehn Jahre alt. Aber er schon fast dreißig. Ein junger Pfarrer mit einer Menge Charme. Sie findet seine Witze cool und seine Visionen bestechend. Er macht ihr Komplimente, nimmt sie ernst, gibt ihr das Gefühl, erwachsen zu sein. Und das gefällt ihr gut.

Was dann kam, hält sie für Liebe. Sie zieht die Kleider an, die ihm gefallen. Liest die Bücher, die er ihr empfiehlt. Findet die Musik gut, die er hört. Zu Gleichaltrigen pflegte sie immer weniger Kontakt, fühlt sich nur lebendig, wenn sie bei ihm ist. Und merkt nicht, wie sie immer abhängiger wird. Auch was ihren Körper betrifft. Der jeden Abend in seinem Bett liegt. Und tut, was er will.

Es soll Spaß machen. Aber es macht ihr keinen Spaß. Es wird zur Pflicht, tut weh, wird immer unangenehmer. Sie nennt es das „gelbe Gefühl“. Sie spricht es an. Aber er lacht sie aus. Setzt sie unter Druck. Besorgt ihr Pillen. Um locker zu werden. Funktioniert nicht. Schließlich schickt er sie zum Therapeuten. Ist doch klar. Mit ihm ist alles in Ordnung. Aber mit ihr stimmt etwas nicht.

Es dauert Jahre bis zum Befreiungsschlag. Den er gar nicht versteht. Weil es doch Liebe ist. Aber das war es nie. Es ging immer um Macht und Abhängigkeit. Sie hat es geschafft, hat all das seit vielen Jahren hinter sich gelassen. Aber als sie mir ihre Geschichte erzählt, laufen ihr die Tränen übers Gesicht. Tränen der Scham, des Schmerzes, des Zorns. Dass sie das hat mit sich machen lassen.

Niemand muss das mit sich machen lassen. Und hätte damals nicht jeder weggesehen, gäbe es eine verletzte Seele weniger. Deshalb will ich hinsehen, solche Geschichten aushalten und tun, was ich kann, damit es nicht mehr passiert. Gott, hilf mir dabei.

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