Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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16NOV2021
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„Partir c’est un peu mourir“ - Abschied ist ein kleines Stück Sterben, sagt diese französische Lebensweisheit. Vielleicht mach ich ja deshalb Abschiede meistens möglichst kurz. Weil ich diese schmerzliche Ahnung vom Sterben nicht zu lange aushalten möchte. Aber Abschiede gehören zum Leben, vom Anfang bis zum Ende ist unser Leben immer wieder von Trennungen geprägt. Ja, wir müssen uns geradezu immer wieder trennen, um uns weiterentwickeln zu können. Von der Abnabelung bei der Geburt über die Abschiede von Lebensphasen und Lebensträumen. Von großen Lieben bis hin zur letzten großen Trennung von diesem Leben im Sterben. Das Leben scheint eingebettet in ein unaufhörliches Anfangen und Aufhören, Weggehen und Ankommen, Binden und Lösen. Immer wieder hin und her gerissen zwischen diesen Polen, die einen innerlich nie ganz zur Ruhe kommen lassen. Der eine Pol fühlt sich schmerzlich an, kraftlos und traurig an, der andere befreit, euphorisch und kraftvoll. Aber wer kann oder will schon diese extremen Gefühle immer wieder zulassen? Wer mag schon dauernd mit Abschied und Sterben konfrontiert werden? Da macht das Leben doch keine Freude mehr. Doch! Nur wer sich der Sterblichkeit bewusst ist, sie nicht verdrängt, kann wirklich Freude empfinden, tiefe Freude. Denn Freude und Leid speisen sich aus derselben Quelle, auf dem Grund unserer Seele. Beides zuzulassen, Freude und Schmerz, vertieft das Leben. Macht den Schmerz erträglicher und die Freude bewusster. Gerade auch den Trennungsschmerz zuzulassen ist dann keine Selbstquälerei, sondern eine Art Lebenskunst. Sterbensbewusstsein als Lebenskunst. „Abschiedlichkeit" wird sie auch genannt. Loslassen können. Sich selbst und die anderen. Nicht nur im Kopf, sondern auch im Herzen – weiß Gott, das ist eine schwere, oft schmerzliche Übung. So bewusst, so intensiv und im Wortsinne ge-lassen zu leben, dass ich Trennungen nicht nur als tödliche Einschnitte erleben kann, sondern als organische Abschnitte meines Lebens. Wie bei einem Baum, der, wenn er zurückgeschnitten wird, wieder kraftvoll wächst und Früchte bringt.
Das ist Seelenarbeit. Und bei den meisten Abschieden tut sie auch weh. Das gehört dazu. Weil ich so, und vielleicht nur so, gut in die nächste Lebensphase komme. Und vielleicht helfen mir die vielen kleinen Abschiede im Leben ja dann auch den großen letzten leichter zu nehmen…

https://www.kirche-im-swr.de/?m=34289
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