Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

04SEP2021
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70 000 Kerzen werden in der Heidelberger Heiliggeistkirche in einem Jahr von Besucherinnen angezündet. Das sind knapp 200 Stück am Tag. Die Heiliggeistkirche steht mitten in der Fußgängerzone. Nur wenige Schritte entfernt liegt die Alte Brücke, von der aus man das berühmte Schloss besonders gut sehen kann. Scharen von Touristen aus aller Welt statten der Kirche deswegen einen Besuch ab. Sie bestaunen den lichtdurchfluteten Altarraum oder setzen sich für ein paar Minuten auf einen Stuhl, um der Musik zu lauschen, wenn jemand an der Orgel übt. Vor allem aber zünden sie Kerzen an. 200 am Tag. Für einen Menschen, dem sie sich verbunden fühlen, für Tote und Lebende, oder einfach so, damit das Licht nicht ausgeht.  

Eine Kerze zünde ich auch im Religionsunterricht zu Beginn jeder Stunde an. Ich sage dazu immer dieselben drei Sätze: „Die Kerze brennt. Gott ist da. Und wir sind da.“ Das brennende Licht ist also ein Zeichen für die Anwesenheit des unsichtbaren Gottes. So wie die Kerzen auf dem Altar in der Kirche, wenn dort ein Gottesdienst gefeiert wird. Am Ende der Stunde pustet reihum immer eins der Kinder die Kerze wieder aus. Da fragt mich in der letzten Stunde vor den Sommerferien plötzlich der gewiefte Anton: „Ist Gott jetzt nicht mehr da?“

Er ist wohl zu dem Schluss gekommen, dass die Sätze auch umgekehrt gelten müssen: Die Kerze brennt nicht mehr. Also ist Gott gegangen. Nur wir sind noch da.
Es ist nicht nur eine Kinderfrage: Wo ist Gott, wenn das Licht ausgeht? Ist er auch im Dunkeln da? Wenn aus einem Leben alles, was es hell und strahlend macht, mit einem Mal verschwindet?

Diese Frage haben sich Menschen zu allen Zeiten gestellt. Manche sind dabei zu dem Ergebnis gekommen, dass in einer Welt, in der so viel Finsteres passiert, kein Gott gegenwärtig sein kann. Andere haben erfahren, dass Gott ihnen gerade in den dunklen Zeiten des Lebens besonders nahe gekommen ist und sie sich gehalten und getröstet wussten, obwohl kein Licht am Ende des Tunnels in Sicht war. Eine hat aus dieser Erfahrung sogar ein Gebet gemacht: „Wenn ich auch gleich nichts fühle von deiner Macht, du bringst mich doch zum Ziele auch durch die Nacht.“ Vielleicht können Sie nicht so beten. Oder glauben. Aber Sie könnten eine Kerze anzünden. Auf Verdacht. Und Gott da sein lassen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=33822
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