Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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02SEP2021
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Eine Zeitlang habe ich in einem Pfarrhaus gewohnt, das in der Nähe eines Klosters lag. Die wenigen Mönche, die dort ihr Klosterleben führten, hielten auch Gästezimmer für Pilger bereit. Wenn diese belegt waren, schickten sie die Leute, die an ihrer Pforte klingelten, weiter mit den Worten: Versuchen Sie es doch mal im Pfarrhaus.

So hat es also auch an unserer Tür immer wieder geklingelt und wir haben im Lauf der Jahre etliche interessante Menschen beherbergt und manche auch ein bisschen kennengelernt. Der erste kam an einem Ostersonntag. Wir haben die Reste unseres Brunchs mit ihm geteilt, und er hat uns von seinem Projekt erzählt: Jedes Jahr hat er sich im Frühjahr eine Woche freigenommen, um in Etappen den Jakobsweg nach Santiago de Compostela zu gehen. Dort, wo die Reise im einen Jahr endete, hat er sie im nächsten wieder fortgesetzt. Eine schöne Übung in Geduld und Langsamkeit. Ein anderes Mal stand ein Mann vor der Tür, der ein paar Wochen zuvor in den Ruhestand getreten war und sich vorgenommen hatte, nun zu Fuß nach Rom zu laufen. Es war spannend zu hören, wie es sich anfühlt, abseits von Hotels und anderem Comfort unterwegs zu sein und am Morgen eines Tages nicht zu wissen, wo man am Abend unterkommt.  

Was bringt Menschen derart auf die Füße? Was unterscheidet dieses Pilgern vom gewöhnlichen Wandern? Was macht den Reiz aus? Ein Pfarrer, der schon viele Pilger begleitet hat, erklärt es so: „Landschaft, Begegnung und Bewegung verändern auch die inneren Landschaften, die Stimmung, das Selbstgefühl. Das Draußen wird durchlässig fürs Drinnen und umgekehrt.“ Genau so geht es einer Freundin von mir: Jedes Mal aufs Neue ist sie wieder begeistert davon, wie viel Freundlichkeit und Gastfreundschaft ihr unterwegs begegnen. Aber auch die Erfahrung von schmerzenden Schultern und Blasen an den Füßen stuft sie im Nachhinein als wertvoll ein. „Beim Pilgern“, sagt sie, „bekommt alles sein rechtes Maß. Ich spüre meine Möglichkeiten und meine Grenzen. Ich nehme mich als Teil von etwas Größerem wahr. Ich lerne das Staunen. In der Bewegung meines Körpers kommen auch die Gedanken in Bewegung. Und auf den neuen Wegen, die ich mit den Füßen beschreite, tun sich auch neue Wege für die Lösung von Problemen auf, die ich vorher gar nicht gesehen habe. Und die Erfahrung, wie wenig ich eigentlich brauche und welche Dinge wesentlich sind, hat meinen Blick aufs Leben verändert. Pilgern tut einfach gut.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=33820
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