Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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31AUG2021
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„Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt. Dem will er seine Wunder weisen in Berg und Wald und Strom und Feld“. Dieses Lied habe ich in der Schule gelernt. Vielleicht kennen Sie es auch oder könnten es sogar „aus voller Kehl und frischer Brust“ mitsingen. Meine Erdkundelehrerin hat es uns beigebracht. Die hat sich gern mal ans Klavier gesetzt und in die Tasten gegriffen. Die weite Welt war damals für uns unerreichbar: Sandstrände und Palmen wie Bilder aus einem Traum. Die meisten meiner Mitschülerinnen und Mitschüler haben Urlaub zwischen Flensburg und Oberammergau gemacht. Einige sind auch nach Italien oder Spanien gereist. Aber wo die Seychellen liegen, Galapagos oder Sansibar, das hat höchstens die Erdkundelehrerin am Klavier gewusst.

Inzwischen ist die weite Welt uns viel näher gerückt. Mit dem Flugzeug ist fast jedes Eckchen der Erde erreichbar. Weltreisen sind keine Seltenheit mehr und viele können von Kreuzfahrten, Safaris und Extrembergtouren auf allen Kontinenten berichten. Erst durch Corona und die die Reiseverbote der Pandemie hat eine Rückbesinnung auf die Wunder „in Berg und Wald und Strom und Feld“ in der näheren Umgebung stattgefunden. Urlaub in Deutschland ist in. Auch weil die Frage, ob der globale Massentourismus der Welt nicht extrem schadet und ihre Wunder weitgehend zerstört, an Gewicht gewonnen hat. Städte wie Amsterdam oder Barcelona ächzen unter der Last ihrer Besucher. Die Einwohnerschaft fühlt sich wie im Belagerungszustand. Venedig droht unterzugehen. In Thailand müssen Strände von der Regierung gesperrt werden, weil die Menschenmassen, die dort mit Selfies im türkisblauen Wasser die Szene aus ihrem Lieblingshollywoodfilm nachstellen, das Paradies zu vernichten drohen, das sie bewundern.

Da bleibt einem das romantische Volkslied doch eher im Halse stecken: „Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt …“

Jemand eine Gunst erweisen, das hat etwas mit gönnen zu tun. Gott gönnt dem Menschen seine Welt. Er gönnt ihm das Reisen, das Wandern und Schlendern, gönnt ihm auch den Schlendrian, das ganz und gar absichtslose Herumstreifen in Berg und Wald und Strom und Feld. Es öffnet uns nämlich Auge und Ohr und Herz und Mund für die Wunder, die es überall zu entdecken gibt. Dabei muss Weite nicht unbedingt etwas mit einer zurückgelegten Zahl an Kilometern zu tun haben. Die weite Welt beginnt direkt vor deiner Haustür. Gönn sie dir!

https://www.kirche-im-swr.de/?m=33818
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