Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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30AUG2021
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Ein Schäfer zählt am Abend seine Schafe und stellt fest, dass von hundert eins fehlt. Ohne zu zögern lässt er die 99 allein und macht sich auf die Suche nach dem vermissten. Er scheut keine Mühen und sucht so lange, bis er es gefunden hat. Am Ende ist seine Freude riesengroß. Happy end; die Geschichte ist gut ausgegangen! Dieses Gleichnis vom verlorenen Schaf hat Jesus einmal erzählt. Aber nicht immer nehmen Geschichten, in denen etwas verloren geht, ein gutes Ende. 

Heute ist der Internationale Tag der Verschwundenen. Die Angehörigen von vermissten Menschen haben vor 40 Jahren in Costa Rica eine Organisation gegründet, mit der sie auf das Schicksal ihrer Liebsten aufmerksam machen wollen. In Mittel- und Lateinamerika herrschte ein schmutziger Krieg und es war gängige Praxis, dass Milizen Menschen verschleppt, inhaftiert, gefoltert und getötet haben. 35 000 Menschen sind wahrscheinlich auf diese Weise ums Leben gekommen. Für die Angehörigen ist es bis zum heutigen Tag kaum zu ertragen, nicht zu wissen, was mit ihren Vätern, Geschwistern und Töchtern passiert ist, ob sie noch leben oder wo sie begraben liegen. Diese Ungewissheit zermürbt das Leben der Betroffenen.

Ich kenne dieses Gefühl der Ohnmacht auch aus den Erzählungen einer alten Dame, die früher neben mir gewohnt hat. Gerdas Mann war „im Krieg geblieben“, wie das viel zu schön umschrieben wurde. In Wirklichkeit war auch er Soldat in einem schmutzigen Krieg gewesen, seine Spur hatte sich irgendwo in den Weiten Russlands verloren, und seither galt er als vermisst. Ein klitzekleiner Hoffnungsschimmer, dass er doch noch leben könnte und eines Tages einfach vor der Tür stehen, hat Gerda davon abgehalten, ihn für tot erklären zu lassen. Kein happy end, nicht einmal ein Ende. Sie hat nie mehr geheiratet.

Auch heutzutage verschwinden bei uns täglich Menschen. Zum Glück klären sich die meisten Vermissten-Fälle noch am selben Tag wieder auf und 97% innerhalb eines Jahres. Aber für drei Prozent gibt es kein happy end. Es bleiben immer noch Menschen verschwunden, vermisst, verschollen.

Unsere Solidarität ist gefragt. Ein Zeichen, dass Beharrlichkeit zum Ziel führt und dass ihr Schicksal uns berührt. Dazu ermutigt mich das biblische Gleichnis vom verlorenen Schaf. Es sagt mir: Jedes vermisste Geschöpf, jeder verschwundene Mensch ist einer zu viel. Und ist es wert, gesucht zu werden, bis er gefunden ist.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=33817
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