Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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26AUG2021
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„Vielleicht solltest Du mal mit jemandem darüber reden“. So heißt ein Buch von Lori Gottlieb. Ein Therapeut hört sich die Geschichten seiner Patientin an. Vor ein paar Monaten hat ihr Freund sie verlassen. Ihre Gedanken sind immer noch bei ihm. Sie ist traurig über den Verlust. Sie lebt in der Vergangenheit. Da steht der Therapeut auf und tritt der Patientin ans Schienbein. „Aua – was war denn das?“ Der Therapeut erklärt: „Es gibt einen Unterschied zwischen Schmerz und Leiden. Jeder fühlt gelegentlich Schmerz. Sie entscheiden sich nicht für den Schmerz, sondern für das Leid.“
Geduldig hat der Therapeut in unzähligen Sitzungen zugehört, stundenlang die Enttäuschung und die Trauer miterlebt. Er sieht, wie die Patientin den seelischen Schmerz immer wieder aufleben lässt, ihn dadurch zum Leiden macht. Sie hält sich für das beklagenswerte Opfer. Der Tritt vors Schienbein ist ein Signal: Jetzt reicht’s. Klar, verlassen werden schmerzt, erst recht, wenn man nicht versteht, warum, keine Krise wahrgenommen hat. Und jetzt der Tritt vors Schienbein. Ein symbolischer Akt. Gerade heftig genug, um einen kleinen Schmerz zu spüren, aber ohne ernsthaft weh zu tun. Wie ein Weckruf. „Wach auf, das Leben geht weiter.“
Manchen würde ich gerne wie der Therapeut seiner Patientin einen Tritt vors Schienbein geben. Der jungen Erwachsenen zum Beispiel, die verwöhnt im Hotel Mama sitzt und sich trotzdem unverschämt ihrer Mutter gegenüber benimmt. Auch der Unternehmer, der sich über die mangelnde Arbeitsmoral seiner Angestellten abfällig äußert, obwohl er unter Tarif bezahlt. Auch er könnte einen Schuss vor den Bug vertragen. Oder die ältere Frau, die bei relativ guter Gesundheit ist, alles hat, und trotzdem ständig beim kleinsten Anlass jammert. Alles in ihrem Leben ist eine „Katastrophe“.
Schmerzen sind nicht schön, aber sie gehören zum Leben. Manchmal sind sie kaum auszuhalten. Aber es ist ein Irrtum anzunehmen, dass es ein Leben ohne Schmerzen gibt. Die Medizin hat heute Gott sei Dank gute Möglichkeiten, körperliche Schmerzen zu lindern. Beim seelischen Schmerz ist es nicht so einfach. Medikamente können helfen, aber die Trauer, die Enttäuschung können sie nicht verschwinden lassen. Oft lähmt auch die Angst vor dem Schmerz, oder die Aussicht ganz allein damit fertig werden zu müssen. Deshalb ist es wichtig Menschen zu haben, denen man von seinem Schmerz erzählen kann. Und gelegentlich dürfen die einem auch einen Tritt vors Schienbein geben.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=33733
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