Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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25AUG2021
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Viele negative Dinge kann ich auf Stress zurückführen: wenn ich unangemessen reagiere, so, dass ich es später bereue, oder etwas vergesse, was mich dann wurmt. Stress kann mich regelrecht krank machen.
Ich spreche nicht von der Spannung, die ich brauche, um auf „Betriebstemperatur“ zu kommen. Unter „gutem“ Stress kann ich Höchstleistungen abrufen, Vorträge halten, Seminare durchführen. Bei negativem Stress habe ich aber keinen Zugang mehr zu dem, was mich eigentlich als Mensch ausmacht: So ein Stress ist Gift. Es bleiben mir dann nur sehr begrenzte Möglichkeiten: weglaufen, totstellen oder kämpfen, wie unsere tierischen Vorfahren. Mein Wissen und Können, meine religiösen und kulturellen Werte werden unzugänglich. Ich kann dann auch nicht mehr freundlich, kreativ oder witzig sein.
Leider werden in unserer Sprache heftige Reaktionen unter Stress verharmlost: „das ist doch menschlich“. Aber gerade das ist es nicht! Wenn wir sagen: „es menschelt“, dann versuchen wir Entgleisungen zu entschuldigen. Zum Beispiel Wutausbrüche im Affekt. Später, bei normalem Bewusstsein, im vollen Besitz meiner Sinne, ist mir das peinlich.
Der Neurologe und Psychiater Viktor Frankl hat in kurzen, knappen Sätzen etwas für mich Wesentliches dazu zusammengefasst. Er sagt: „Zwischen Reiz und Reaktion ist ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Fähigkeit unsere Reaktion bewusst zu wählen. In unserer Reaktion liegt unser Wachstum und unsere Freiheit.“(*) Wir sind menschlich, wenn wir eben nicht so impulsiv reagieren, wie Tiere es in der Regel tun. Das Reiz-Reaktions-Schema muss auf uns Menschen nicht zutreffen. Wir besitzen eine sogenannte „Impulskontrolle“. Wirklich menschlich reagieren wir, wenn wir den Raum zwischen Reiz und Reaktion nicht nur zulassen, sondern bewusst ausgestalten. Ein bestimmtes Gefühl wird auslöst, aber ich muss nicht sofort reagieren. Wenn ich zum Beispiel Wut spüre, muss ich nicht wütend sein und erst recht nicht mein Gegenüber damit ungefiltert konfrontieren: Ich kann in solchen Situationen über meine tierischen Affekte hinauswachsen und meine Werte als Mensch ausspielen, gewaltlos, partnerschaftlich, achtsam mitfühlend. Einmal tief durchatmen und erst dann reagieren. Wenn ich das schaffe, lässt mich das frei und wirklich erwachsen fühlen. Wir sind vernünftige Kulturwesen. Wir können vorausschauend planen. Wir können Stress vermeiden, gelassen mit Mitmenschen und Situationen umgehen, und wenn sie noch so herausfordernd und schwierig sind.

 

(*) Zitat aus: Lori Gottlieb „Vielleicht solltest Du mal mit jemandem darüber reden“ S. 370

https://www.kirche-im-swr.de/?m=33732
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