Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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05JUL2021
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Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich theoretisch immer dasselbe: Augen, Nase, die vertrauten Gesichtszüge… Klar, das bin ich selbst.

Praktisch aber sehe ich jeden Morgen etwas anderes. Manchmal erscheint da ein Gesicht, das mir gefällt – mit freundlicher Ausstrahlung, einem unternehmungslustigen Blitzen in den Augen und der grauen Haarsträhne genau an der richtigen Stelle. An anderen Tagen erschrecke ich. Müde Augen, fahle Haut, hängende Haare… Soll das etwa ich sein? Vermutlich kennen Sie dieses Gefühl auch.

Klar, wie ich gerade aussehe hängt davon ab, ob ich genug geschlafen habe und wann ich das letzte Mal beim Friseur war. Eine andere Frage ist vermutlich aber noch wichtiger: Wie fühle ich mich gerade? Was ich im Spiegel sehe, hängt auch davon ab, welches Bild ich von mir selbst habe. Ob ich mit mir und meinem Leben zufrieden bin – oder mich gerade selbst nicht leiden kann. Meine Kinder, meine Kollegin oder mein Mann sehen mich vielleicht ganz anders - und auch das bin ja ich. Auch so sehe ich aus.

Je länger ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir: Im Spiegel sehe ich immer nur einen Teil der Wahrheit. Wie ich „wirklich“ aussehe und bin – das kann ich nicht wissen. Das hat auch der Apostel Paulus in der Bibel so beschrieben – und dazu auch das Bild vom Spiegel gebracht: Jetzt sehen wir nur ein rätselhaftes Spiegelbild, schreibt er in einem Brief.

Aber Paulus hat die Hoffnung, dass das einmal anders sein wird: Jetzt sehen wir nur ein rätselhaftes Spiegelbild. Aber dann sehen wir von Angesicht zu Angesicht zu Angesicht, schreibt er weiter. Jetzt erkenne ich nur Bruchstücke. Aber dann werde ich vollständig erkennen, so wie Gott mich schon jetzt vollständig kennt.

Mich so sehen, wie ich wirklich bin – für Paulus heißt das: Mich so sehen, wie Gott mich sieht. Aber was heißt das? Wie sieht mich Gott? Ich glaube, er sieht tatsächlich alles an mir: auch das, was ich selbst übersehe – und andere Menschen auch. Gott sieht mich ganz und gar. Und ich bin – wie Paulus – überzeugt: Gott schaut mich freundlich an. Und uns alle. Mit liebevollem Blick.

Manchmal versuche ich, mir das ganz praktisch vor Augen zu führen: Wenn mir mein Spiegelbild auf den ersten Blick nicht gefällt, gebe ich ihm eine zweite Chance. Mit einem zweiten Blick – einem freundlichen. Wenn Gott mich freundlich ansieht, warum sollte ich es dann nicht tun? Das Schöne daran ist: Der freundliche Blick verändert etwas. Immer.

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