Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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04JUN2021
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Social Distancing. Das praktizieren wir nun seit geraumer Zeit und meistens sehr gewissenhaft. Mit Social Distancing meinen die Virologen und die Epidemie-Experten aber genaugenommen eher Physical Distancing. Wir sollen uns also zumindest rein körperlich nicht zu nahe kommen - wegen der Ansteckungsgefahr.

Leider aber hat dieses körperliche Abstandhalten nach den Monaten der Distanz auch zu einer sozialen Distanz geführt und das in allen gesellschaftlichen Bereichen: Familien haben sich seltener getroffen, Freunde haben sich manchmal fast aus den Augen verloren. Besonders deutlich ist es in der Arbeit mit Flüchtlingen und Asylbewerbern. Sie brauchen den Kontakt zu anderen, um sich gut integrieren zu können. Konzerte und Theatervorstellungen sind ausgefallen. Die Kinder sind monatelang online unterrichtet worden, ohne die Klassenkameraden zu treffen. Ihnen fehlt die Begegnung besonders. Auch mir wird jetzt erst so richtig bewusst, dass viele Begegnungen in den letzten Monaten nicht stattgefunden haben.

Manche Menschen sehe ich nur zu bestimmten Veranstaltungen. Und diese Veranstaltungen gibt es im Moment nicht. Ohne Chorproben habe ich meine Chorkollegen fast ein Jahr nicht live gesehen. Und auch mit den Pfarrern und Pfarrerinnen treffen wir uns zu Konferenzen nur online. Da fällt es besonders deutlich auf: Ich sehe die anderen zwar auf dem Bildschirm, aber in der Pause muss ich den Kaffee doch allein trinken. Ohne die manchmal tiefgehenden, manchmal belanglosen Gespräche mit den Kolleginnen und Kollegen. Dabei lockern die die manchmal anstrengenden Konferenzen sehr gut auf.

Mir fehlt das Gegenüber. Menschen in live. Nicht nur auf den Bildschirm schauen. Einen anderen Menschen mit allen Sinnen erleben, die kleinen Gesten, den Geruch, auch mal ein verschmitztes Grinsen oder ein Augenzwinkern, eine kleine Berührung. Zwischenmenschliches lebendig erleben. Ich setze große Hoffnungen in die neuen Impfstoffe. Dass sie uns möglichst bald wieder eine Normalität ermöglichen, nach der wir uns so sehnen.

1861 hat der deutsche Lehrer und Erfinder Philipp Reis einen Apparat erfunden, den er Telefon genannt hat. Dieses Gerät hat er damals den Mitgliedern des Physikalischen Vereins in Frankfurt vorgestellt. Die haben die Bedeutung sofort erkannt, weil man damit mühelos physikalische Distanzen von großer Reichweite überbrücken konnte, was soziale Nähe erzeugen kann.

Und genau diese Nähe brauchen wir. Deshalb werde ich heute noch ein paar Mal telefonieren.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=33234
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