Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

22MRZ2021
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Wenn ich mit meiner achtzigjährigen Mutter rede, sagt sie in letzter Zeit manchmal: „Es ist nicht mehr schön.“ Sie meint Corona und damit die Umstände, unter denen sich ihr Leben gerade abspielt. Es ist nicht so, dass ihr etwas fehlt, was notwendig wäre. Sie hat jemanden vor Ort, der für sie einkauft, und ich bin auch da, wenn’s drauf ankommt. Es ist eher eine atmosphärische Unzufriedenheit. Wie wenn ein Klavier verstimmt ist. Nicht arg, aber so dass man es hört.

„Es ist nicht mehr schön.“ Dahinter verbirgt sich für mein Empfinden auch eine Sehnsucht. Zu wissen, dass man etwas tun könnte, wenn man wollte. Mit Freundinnen ein Eis essen gehen. Eine kleine Reise unternehmen. Mal wieder die Oper besuchen. Meine Mutter hält weiterhin durch. Das hat sie von sich aus gesagt. Sie ist auch klug genug zu wissen, dass es anderen schlechter geht als ihr. Weil sie krank und an die Wohnung gefesselt sind. Oder weil sie keine Verwandten oder Freunde haben, die Probleme auffangen. Trotzdem ist die Corona-Zeit für einen älteren Menschen wie meine Mutter eine ganz eigene Belastung. Und es tut mir zunehmend weh, das bei ihr zu sehen. Wie anstrengend es für sie ist, den Kopf oben zu halten. Aber so leid es mir tut: Ich kann ihr nicht zurückgeben, was sie braucht.

Trotzdem bin ich nicht völlig machtlos. Wenn meine Mutter sagt, dass es nicht mehr schön ist, dann bedeutet das ja: Sie weiß, was schön ist und freut sich über schöne Dinge. Und für die kann ich sorgen. Ich kann mir schlicht überlegen, was sie schön finden würde und was im Moment trotz allem möglich ist. Ich kann sie mit einem Besuch überraschen. Oder ihr versprechen, dass wir - sobald es möglich ist - an den Ort fahren, wo wir schon so oft waren und es ihr immer gut gefallen hat. Ich kann sie auch in Gedanken mit in meine Gottesdienste nehmen, die ich feiere, in einem stillen Augenblick besonders für sie beten, ihr Mut und Durchhaltwillen wünschen.

Erst habe ich mich gewundert, dass meine Mutter das kleine Sätzchen hat einfach fallen lassen: „Es ist nicht mehr schön.“ Aber dann habe ich verstanden. Es ist ihre Art und Weise auszudrücken, dass sie nicht aufgibt. Und darüber bin ich froh. 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=32828
weiterlesen...