SWR1 Begegnungen

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07FEB2021
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Prof. Gerald Hüther Annette Bassler im Gespräch mit Prof. Gerald Hüther

Annette trifft Prof. Gerald Hüther, Neurobiologe, Vorsitzender der Akademie für Potentialentfaltung


Wie es Kindern so geht
Und Gerald Hüther. Lange Jahre hat er darüber geforscht, wie das menschliche Gehirn funktioniert und sich entwickelt. Sein Ergebnis: es sind die Beziehungen. Die zu den Eltern, Lehrern, Freunden. Sie machen, dass ein Kind seine Potentiale entfaltet. Deshalb arbeitet Gerald Hüther heute mit Bildungseinrichtungen zusammen, hat ein Institut für Potentialentfaltung gegründet. Per video haben wir miteinander gesprochen. Und ich wollte wissen: was bedeutet es für Kinder, wenn sie seit fast einem Jahr ihre Kontakte einschränken müssen?

Das ist der soziale Raum, in dem sie die wichtigsten Erfahrungen machen und ein Jahr ohne solche Erfahrungen, das ist schon nicht so ganz ohne. Das heißt, wenn ich als Kind jetzt sieben Jahre alt bin, ist ein Jahr ein Zehntel. Ich bin jetzt fast 70, da wäre ein Zehntel dessen zehn Jahre. Stellen Sie sich vor, zehn Jahre müsste ich so leben, da wäre ich doch hinterher gar nicht mehr wiederzuerkennen!

Was macht ein Kind, das seine elementaren Bedürfnisse noch nicht aufschieben kann?

Es muss versuchen sein Bedürfnis, die Oma zu besuchen, in sich selbst zu unterdrücken. Das ist, was viele Kinder geschafft haben. Die haben dann auch das Bedürfnis, mit anderen Kindern zu spielen, unterdrückt. Die haben das Bedürfnis, auch mal zu raufen und zu toben und einfach auch mal ganz wild zu sein. Alles mussten die unterdrücken.

Dieses „Unterdrücken“ aber hinterlässt Spuren, meint Hüther, das kindliche Gehirn baut sich um. Das elementare Bedürfnis nach Nähe und Kontakt wird weniger. Es verliert etwas von seiner Lebendigkeit. Während Eltern durch ihre Mehrfachbelastung selbst am Limit sind. Was bleibt dann noch? Vielleicht dies.

Es lässt sich alles besser aushalten, wenn man versuchen würde, etwas liebevoller mit sich selbst umzugehen. Sich mal fragen: Was kann ich mir heute mal Gutes tun?

Was würde mir persönlich- was würde uns als Familie heute guttun? Darüber könnte man miteinander reden. Sich dafür Zeit frei schaufeln. Und versuchen, es dann auch umzusetzen. Warum das so wirksam ist?

Sie kommen wieder in das Gefühl, Gestalter ihres eigenen Lebens zu sein, … nur noch das zu machen, was ihnen guttut. Anstatt gegen das anzurennen, was sie sowieso nicht ändern können.

Was tut mir, was tut uns jetzt gut? Ich habe zum ersten Mal meinen Enkeln per Video abends was vorgelesen. Und die haben mit den Eltern Pläne und Absprachen gemacht, was sie tagsüber unternehmen.

Kinder können auf einmal lernen, Teil dieser Familie zu sein. Und sie können gemeinsam mit den Eltern versuchen, es sich so schön wie möglich zu machen, trotz der Einschränkungen. Und dann merken sie plötzlich: wow! Ich habe eine gute Idee. Mama hat ne gute Idee, Papa hat ne gute Idee. Und dann sucht man sich die Freiräume, die gehen unter Einhaltung der Bestimmungen und Verordnungen.

Vertrauen wagen und loslegen

Wie kann ein Kind am besten seine Potentiale entfalten? Darüber hat Gerald Hüther lange geforscht als Neurobiologe. Sein Fazit: Kinder, die ihre elementaren Bedürfnisse leben dürfen, bekommen die beste Bildung für ein gelingendes Leben. Das Bedürfnis nach Geborgenheit und Gemeinschaft ist eines. Ein anderes ist es, etwas bewirken, Probleme lösen zu können.

Wenn jetzt Eltern versuchen, ihrem Kind alle Probleme aus dem Weg zu räumen, brauchen Sie sich nicht zu wundern, dass dieses Kind nie lernt, wie ein Problem gelöst wird. Und damit hat es keine eigenen Kompetenzen. Und damit ist es hoch anfällig für Angstmacher. Weil es nicht auf eigene Kompetenzen zurückgreifen kann.

Genauso wichtig ist es aber auch, die Kinder nicht mit Problemen zu überhäufen, die es nicht lösen kann. Wenn das Kind mit Einschränkungen leben muss, ist es wichtig, ihm zu vermitteln, dass man es verstehen kann. Dass man selber auch Angst hat. Aber trotzdem auch irgendwie darauf hofft, dass es gut ausgehen wird. Das vorzuleben ist für Kinder das Wichtigste. Gerald Hüther nennt es Gottvertrauen.

Und das ist eben auch ein kulturelles Gut, selbst wenn man nicht in der Kirche ist, ist dieses Kulturgut ja nicht für einen unsichtbar. Und insofern hat es sicher vielen Menschen geholfen, dass sie sich vorstellen konnten, dass es wieder gut wird. Und dass irgendwie Gott die Hand schützend über sie hält. Und dann haben sie losgelegt.

Vielleicht brauchen Kinder heute mehr denn je Erwachsene, die aus diesem Vertrauen heraus „loslegen“. Die einfach mal anfangen und etwas tun, was das Leben besser macht. Mit einer Grundhaltung, die dem, was derzeit so müde macht, etwas entgegenhält: Respekt vor der Würde des Kindes.

Das, worum es nämlich geht, ist, dass wir keinen anderen Menschen in so einer Gemeinschaft zum Objekt machen. Zum Objekt Ihrer Belehrung, Ihrer Erwartungen, Ihrer Maßnahmen, Ihrer Bewertungen. Sowohl in den Schulen, aber auch schon in den Elternhäusern.

Und das stelle ich mir anstrengend vor! Nicht nur reden, sondern ernsthaft zuhören und nachfragen. Ganz bei sich sein, aber auch ganz bei Anderen. Ideen entwickeln, aber sie auch wieder einpacken können. Kurzum: Solidarität leben, Schwarmintelligenz entwickeln. Gerald Hüther ist davon beseelt.

Wenn die Mitglieder einer Gemeinschaft es schaffen, dass die aufhören, sich gegenseitig zum Objekt zu machen, dann ist die Entfaltung der in diesen Mitgliedern und der ganzen Gemeinschaft angelegten Potenziale unabwendbar.

Alles ist möglich denen, die glauben. Hat Jesus gesagt. Weil bei Gott nichts unmöglich ist. Vielleicht ist die Zeit reif, Vertrauen zu wagen- in die Möglichkeiten Gottes. Für Gerald Hüther jedenfalls ist Vertrauen der Anfang von allem. 

Das ist die Grundmelodie. Und Kinder können die schon begreifen. Die Botschaft heißt nämlich: es gibt Probleme im Leben ja! Aber es wird auch wieder gut.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=32566
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