Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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04FEB2021
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Jemandem etwas nachtragen, das braucht Kraft. Mir ist das neulich aufgefallen, als ich im Fernsehen den jungen Soldaten gesehen habe, der dem Präsidenten der USA in zwei dicken Taschen wichtige Unterlagen nachtragen musste. Der junge Mann war stämmig und muskulös und trotzdem konnte man sehen: Nachtragen kann schwer sein und einen ganz schön runterziehen.

Jemandem etwas nachtragen braucht Kraft und zieht einen runter. Das gilt nicht nur für  schwere Koffer und Säcke. Ich denke an Leute, die nachtragend sind, die schnell eingeschnappt sind, vergangene Erfahrungen immer wieder hervorkramen. Dem anderen vorwerfen, was war, weinen und schmollen und dem anderen so ein schlechtes Gewissen machen.

Vielleicht war die Frau so eine, von der die Bibel erzählt (Lk 13, 10-17) Sie war ganz krumm geworden, heißt es, weil sie so schwer zu tragen hatte. Vielleicht ein schweres Schicksal. Vielleicht aber auch vor allem das, was sie anderen nachtragen musste. Sie konnte nicht vergessen und nicht vergeben. Ich stelle mir vor: Ihre Vorwürfe und ihr Schmollen haben es noch schlimmer gemacht. Die anderen waren mehr und mehr gereizt und schließlich gingen sie der Frau aus dem Weg, weil sie genug hatten von den ewigen Vorwürfen. Da fühlte sie sich natürlich noch mehr verletzt.

Dieser Frau, wird erzählt, ist Jesus begegnet. Und ausdrücklich wird betont: Er sieht sie – er sieht also nicht über sie hinweg. Er geht ihr nicht aus dem Weg. Im Gegenteil. Er sieht sie an. Er legt ihr die Hand auf die Schulter. „Es ist vorbei“, sagt er zu ihr. „Auch du bist eine Tochter Gottes“. Da konnte die Frau sich aufrichten.

Tochter Gottes: Ich glaube, das ist es, was der Frau geholfen hat. Sie hatte alles in sich hineingefressen und schwer daran zu tragen gehabt – weil es so gut zu dem gepasst hat, was sie selbst von sich dachte. Sie musste jedes missglückte Wort der anderen, jede verunglückte Bemerkung so schwernehmen, weil sie selbst genauso von sich gedacht hat. Deshalb tat ihr so weh, was die anderen gesagt haben. Deshalb war es eine solche Last für sie. Und jetzt: Tochter Gottes! Eine Tochter Gottes muss nicht alles hinnehmen und schwernehmen. Eine Tochter Gottes braucht sich nicht getroffen fühlen, wenn jemandem ein falsches Wort herausgerutscht ist. Sie kann „Nein sagen“, wenn es nötig ist. Sie kann im Konflikt nach Lösungen suchen. Sie kann nachgeben, wenn die anderen vielleicht doch recht haben.

Sie muss niemandem etwas nachtragen. So wird die Last leichter. Und das Leben auch.

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