Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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22JAN2021
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Es gibt Gebete in der Bibel, die finde ich schwer auszuhalten. Zum Beispiel das hier: „Schütte deinen Zorn über sie aus, hole sie ein mit der Glut deines Grimms!“ Oder das hier: „Gott, zerschlage ihnen die Zähne, zerbrich das Gebiss dieser Löwen, Herr!“ Das sind Sätze aus den so genannten Rachepsalmen. Da sinnt jemand auf Rache – und bittet Gott, andere Menschen zu bestrafen.

Manche sagen: So was darf man nicht beten. Das passt nicht zur Gesamtbotschaft der Bibel. Und in den kirchlichen Gesangbüchern, in denen viele Psalmen aus der Bibel mit abgedruckt sind, werden diese schwierigen Abschnitte dann auch ausgelassen.

Ich kann diese Bedenken gut verstehen. Und gleichzeitig glaube ich: Auch die Rachepsalmen haben ihre bleibende Bedeutung. Es ergibt einen Sinn, dass sie in der Bibel stehen.

Zum einen: Wer spricht diese Gebete eigentlich? Das sind Menschen, die Unrecht erleben. Zum Beispiel von Stärkeren, die ihre Überlegenheit ausnutzen. Oder von Mächtigen, die das Recht verdrehen. Das gibt es ja bis heute. Auf dem Schulhof, im Geschäft, in der Familie. Und es ist eine schreckliche Erfahrung, dann nichts tun zu können, den Tätern einfach nur ohnmächtig ausgeliefert zu sein. Die Rachepsalmen geben dieser Ohnmacht und der Wut eine Stimme. Und sie machen deutlich: Wut ist verständlich und nicht verboten. Vor Gott muss man sie nicht brav verheimlichen. Auch die heftigsten Wünsche gegenüber anderen Menschen darf man ihm anvertrauen.

Zum anderen machen die Rachepsalmen deutlich: Wer so betet, will nicht selbst gegen die Täter zurückschlagen. Sondern Gott soll eingreifen. Hier ist also schon das moderne Verbot der Selbstjustiz zu finden. Und was Gott dann aus den Gedanken des Beters am Ende macht, bleibt ihm überlassen. Gott handelt jedenfalls nicht im Affekt – wie es vielleicht menschlich wäre. Gottes Rache ist kein blindes Wüten, kein pauschaler Rundumschlag. Auch davon wird in den Rachepsalmen etwas deutlich, so heftig sie auch klingen. Gott hält Maß, wenn er eingreift. Und macht vielleicht sogar Umkehr möglich.

Ohnmacht und Wut bekommen eine Stimme. Gott selbst soll eingreifen. Und das Ziel der Rachepsalmen ist Gerechtigkeit. Für alle Menschen – und besonders für die, die sonst unter die Räder kommen.

Deshalb finde ich: Sogar die Rachepsalmen darf man beten. Hoffentlich nicht zu oft. Aber wenn es nötig ist.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=32420
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