SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

08JAN2021
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Einfach mal für ein paar Stunden rauskommen. Den Alltag hinter mir lassen, um wieder klarer sehen zu können. Das war mein Plan gewesen. Ich hatte mir den Tag extra frei genommen, obwohl oder gerade weil ich zu dieser Zeit mehr als genug zu tun hatte. Meine Idee war es, ein bisschen Wandern zu gehen und dabei für mich klarer zu kriegen, was eigentlich gerade wichtig ist. Ich wollte dazu in den Schwarzwald fahren, weil ich die Landschaft dort liebe. Und so hatte ich es mir vorgestellt: Dort oben auf der Höhe blicke ich über die Wiesen und Wälder und genieße die freie Sicht bis hinunter in die Rheinebene. Und während ich das tue, habe ich Zeit nachzudenken, kann durchatmen und bekomme mehr Überblick für mein eigenes Leben. Und dann das: Nebel. Je höher ich mit dem Zug fahre, umso dichter wird der graue Schleier.

Ich entscheide mich in Hinterzarten auszusteigen und loszugehen. Wenn ich auf einem der Wanderweg bleibe, dann werde ich mich trotz Nebel schon nicht verlaufen. Während ich laufe reicht die Sicht nie weiter als 20, 30 Meter. Eine Kurve oder Abzweigung sehe ich erst kurz bevor ich sie erreiche. Wegweiser tauchen erst aus der grauen Brühe auf, wenn ich fast vor ihnen stehe.

Während ich so laufe, denke ich: das ist ein gutes Bild für meinen Alltag. Eigentlich wollte ich ihn ja für ein paar Stunden hinter mir lassen. Aber anstatt, dass sich hier oben alles weitet und mir einiges klarer wird, spiegelt mir die Natur nur meine aktuelle Situation wieder: es fehlt gerade die große Perspektive. Ich hangle mich so von Tag zu Tag, versuche einigermaßen auf Kurs zu bleiben und entscheide das, was gerade entschieden werden muss. Für mehr reicht es momentan nicht. So ist das wohl gerade. Vermutlich muss ich das akzeptieren und nicht mehr wollen, als zurzeit eben möglich ist. Kleine Etappen angehen und darauf vertrauen, dass wenn ich sie bewältigt habe, sich wieder ein neuer Weg auftut.

Nach etwa zweieinhalb Stunden erreiche ich den Titisee. Gerne würde ich jetzt erzählen, dass dort auf einmal die Sonne durch den Nebel gebrochen ist, und dass ich das gegenüberliegende Ufer sehen konnte. So war es aber nicht.

Im weiterhin dichten Nebel steige ich in den Zug und fahre zurück nach Hause. Mein Wunsch die Dinge etwas klarer zu sehen, hat sich trotzdem erfüllt. Wenn auch ganz anders als ich gedacht habe. Ich werde weitergehen und darauf vertrauen, dass der Weg sich beim Gehen zeigt. Und dabei werde ich nicht aufhören zu hoffen, dass sich der Nebel irgendwann lichtet.

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