Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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07JAN2021
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Ich kenne einen alten Herrn, der gibt mir nicht die Hand. Er hat es auch vor Corona nicht getan. Weil ich eine Frau bin. Seine Religion verbietet es ihm, sagt er. Sonst ist der alte Herr supernett. Gebildet und humorvoll, warmherzig und witzig. Bloß: Die Hand gibt er mir nicht.

Ich gebe zu: Das verletzt mich. Frauen gelten in vielen Religionen und Kulturen als minderwertig. In manchen spielt dabei auch die Angst eine Rolle, ein Mann könnte von einer fremden Frau verführt werden, wenn er sie berührt. Also auch, wenn er ihr die Hand gibt. Obwohl: Bei uns beiden alten Leuten ist das ja eigentlich eine abwegige Vorstellung. Trotzdem: Er gibt mir nicht die Hand. Er hat es so gelernt und es sein Leben lang nichts anderes gehalten. Eigentlich glaube ich nicht, dass er mich nicht achtet.

Was soll ich nun tun? Beleidigt sein? Den alten Herrn meiden? Soll ich sagen: Was wollen Sie eigentlich hier, Sie gehören hier nicht her mit solchen Verhaltensweisen?

Der alte Mann ist fremd in unserem Land. Wohl nie richtig angekommen, obwohl er schon seit Jahrzehnten hier lebt. Da fällt es mir ein: „Fremde aufnehmen“ ist ein Werk der Barmherzigkeit. Jesus hat das gesagt. Und das heißt ja nicht nur, ihnen eine Bleibe geben in irgendeinem Lager, damit sie halt ein Dach über dem Kopf haben, wenn sie schon mal da sind. Schon die ersten Christen haben einander ermahnt „nehmt die Fremden auf – ohne es zu merken haben manche schon Engel aufgenommen“ (Hebr 13,1). Und Jesus hat gesagt: „Wer einen Fremden aufnimmt, der nimmt mich auf!“. Soll so ein Fremder sich denn nicht auch wohlfühlen bei mir? Nur irgendwie geduldet sein, wenn er mir mit seinen fremden Sitten und Gebräuchen nicht zu nahekommt? Wenn er einer fremden Frau nicht die Hand geben  will?

„Fremde aufnehmen“ heißt wohl auch, ihre Kultur akzeptieren und tolerieren, und nicht sagen: Sie sollen sich gefälligst anpassen, wenn sie hier leben wollen. Fremde beherbergen – das ist anders als sie ausgrenzen und ausschließen.

Und wie ist das mit den Jungs und jungen Männern, die hier bei uns heimisch werden wollen? Die hier aufwachsen und zur Schule gehen? Mit denen muss man reden, finde ich. Damit sie begreifen, dass Frauen genauso viel wert sind wie Männer. Dass man respektvoll mit ihnen umgehen muss. Sie nicht angrapschen darf. Ihnen aber ruhig die Hand geben kann. Das sollten sie lernen, finde ich, Und wenn sie mir trotzdem nicht die Hand geben wollen? Vielleicht kommt das nach Corona ja sowieso aus der Mode. Und wir finden andere Zeichen, um zu zeigen, dass wir einander recht und wert sind.

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