SWR1 Begegnungen

SWR1 Begegnungen

01JAN2021
AnhörenDownload
DruckenAutor*in
Dorothee Wüst

Annette Bassler trifft Dorothee Wüst, designierte Präsidentin der evangelischen Kirche der Pfalz

Aufbruch
Ein erfülltes und gesegnetes Neues Jahr wünschen wir Ihnen! Und nach dieser stillen Silvesternacht einen hoffnungsfrohen Neuanfang. Dass aus all den Sorgen und Entbehrungen der letzten Wochen etwas Gutes erwächst. Vielleicht sogar neues Leben aufblüht. Dorothee Wüst hat in ihrer Kirche- der evangelischen Kirche der Pfalz- schon seit Wochen einen Neuanfang wahrgenommen.

Als Kirche sind wir eigentlich krisenerprobt seit Jahrtausenden. Und wir haben immer die Erfahrung gemacht, dass, wenn Krisen die Menschen beuteln, dann kommen sie zu uns, suchen Nähe und Gemeinschaft. Und genau das war dann nicht möglich. Das heißt, ich glaube, wir haben uns im vergangenen Jahr da auch ein Stück weit neu erfinden müssen. Und ich finde, an vielen Stellen ist uns das auch gar nicht schlecht gelungen.

Vielleicht haben Sie auch die Gottesdienste über die Feiertage geschätzt. Die im Internet, in Radio oder Fernsehen. Online- Andachten, Zoom- Diskussionsrunden- Kirche war kreativ digital. Und mehr noch:

Also an vielen Stellen ist Kirche, ist Gemeinde nach draußen gegangen, ist auf die Straßen gegangen, auf Felder gegangen, ist in Ställe gegangen, in den öffentlichen Raum. Und das finde ich, ist was Gutes, was wir als Kirche auch gelernt haben aus Corona. Kirche findet nicht nur drinnen statt, sondern Kirche muss auch im öffentlichen Raum sichtbar werden.

Zu Leuten reden, die sonst nix mit Kirche am Hut haben, das gehört für Dorothee Wüst seit über zwanzig Jahren zum Alltag als Pfarrerin. Wo sie das gelernt hat, na klar!

Ich habe es an meinen Kindern gelernt. Also ich finde Kinder erden ganz ungemein. Und wenn ich denen einen Text von mir vorlese und sehe nur in Fragezeichengesichter, dann weiß ich: das war nix. Also, das muss man auch mal überarbeiten, weil es sonst keiner versteht. Ich habe es zum Beispiel auch in der Rundfunkarbeit gelernt. Wenn man in SWR3 in Beitrag produziert, den die Leute nicht verstehen, dann kriegt man ganz klar gesagt: das war nix.

Und jetzt hat auch ihre Kirche einen Neuanfang gewagt. Ab kommendem März wird Dorothee Wüst ihr Amt als Kirchenpräsidentin antreten. Die erste Frau in diesem Amt im gesamten Südwesten. Dabei sind es erst 62 Jahre her, dass Frauen zur Pfarrerin ordiniert werden durften. „Pfarrer im Sinn des Dienstrechtes ist auch die Pfarrerin“, so die damalige Dienstordnung. Mich freut, wie realistisch und souverän Dorothee Wüst mit den heutigen Geschlechterklischees umgehen kann.

Also eine Chance liegt bestimmt darin, dass man einem als Frau auch Fähigkeiten zutraut wie: zuhören können, wahrnehmen können, Gefühl zeigen können.  Was manchmal schwieriger ist: Wenn man als Frau mal so auf den Tisch haut, dann wird das schnell auch merkwürdig beäugt. Dann geht das schnell so in die Richtung von Hysterie, wo man bei einem Mann vielleicht sagen würde, der hat jetzt aber mal klar seine Meinung gesagt.

Und Dorothee Wüst tut das auch. Sie hat ein Zukunftsbild von Kirche im 21. Jahrhundert. Ideen und Visionen, die sie umsetzen will.

Weg der Barmherzigkeit

„Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist.“ Das ist die Losung der evangelischen Kirche für das Jahr 2021. Dorothee Wüst- ab März die erste Kirchenpräsidentin im Südwesten, findet „barmherzig sein“ ungemein alltagstauglich.

Barmherzig sein finde ich, kann eigentlich jeder. An vielen Stellen im Evangelium kriegen wir ja gute Botschaften gesagt, wo man erst mal so ein bisschen Schnappatmung kriegt im Sinne von:  du, lieber Himmel. Was für ein Anspruch, das schaffe ich nicht. Aber barmherzig sein, das kann im Prinzip jeder und auch jeder in seinem persönlichen Umfeld.

Barmherzig sein heißt aber auch, ein bisschen über seinen eigenen Schatten springen wollen.

Ich muss mein Gegenüber wahrnehmen. Und unter Umständen ist der in der Situation, die ich nicht gut finde. Tut Dinge, die ich nicht gut finde. Aber ich erkenne bei meinem Gegenüber eine Not und die ist vorrangig. Und ich wende mich spontan dieser Not zu. Das ist für mich Barmherzigkeit.

Dorothee Wüst hat viel Erfahrung als Pfarrerin in der Gemeinde und in der Kirchenleitung. Als ich sie nach sowas wie einem „10 Punkte Plan“ als Kirchenpräsidentin frage, sagt sie, dass sie genau das nicht will. Ansagen machen, denen andere folgen sollen. Sie will in ihr Amt erst mal eine andere Haltung einbringen. Und dazu auch andere verlocken.

Eine Haltung, frei denken zu dürfen, kreativ sein zu dürfen, innovativ sein zu dürfen. Und tatsächlich ja, in einer gemeinschaftlichen Art und Weise zu gucken, wie wir das Schiff, das sich Gemeinde nennt, in die Zukunft schaukeln können.

Vielleicht hat das auch mit dem Frausein zu tun. Unsre Mütter haben das in der Familie vorgelebt. Haben dafür gesorgt, dass alle sich entwickeln können, dass kein Kind übersehen und alleingelassen wird. Haben dafür sich selber lieber erst mal zurückgenommen. Um der Gemeinschaft willen. Diese Haltung wünscht sich Dorothee Wüst auch zwischen den Kirchenengagierten und den eher Kirchenfernen.

Wenn man wirklich auf das hören will, was andere Menschen bewegt und was sie anspricht, kann das unter Umständen auch heißen, mich in Teilen von dem verabschieden zu müssen, was mir lieb und teuer ist. Das geht halt einher mit Veränderung.

Vielleicht ist die Zeit wirklich reif, dass wir uns nicht mehr auseinanderreden, sondern zusammenreden. Uns auf die Welt des Anderen einlassen, sie wahrnehmen ohne sie gleich zu bewerten. Das bedeutet auch Verzicht auf lieb gewordene Gewohnheiten. Verzicht auf das „ich zuerst“. Um der Gemeinschaft willen. Für Dorothee Wüst eine Vision, die mit Barmherzigkeit zu tun hat.

Für jeden Einzelnen ist es eine Wohltat, wenn er sich aufgehoben fühlen kann in einer solidarischen Gemeinschaft. Dazu gehört aber auch, dass ich die Menschen um mich herum wahrnehme, mit denen ich Gemeinschaft sein kann. Und das wäre, glaube ich, so mein Wunsch für das Jahr 2021, dass es uns gelingt, mit Gottes Hilfe und mit dem, was wir mit Herz und Seele zu bieten haben, tatsächlich solidarische Gemeinschaft zu sein.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=32283
weiterlesen...