Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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10DEZ2020
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Mit Maske sieht man sein Gegenüber zwar nicht ganz, aber das Wichtigste sieht man schon, finde ich.

Seit diesem Schuljahr bin ich Religionslehrer an einer neuen Schule. Von Anfang an bestand für uns Lehrer auf den Gängen und im Lehrerzimmer Maskenpflicht. Das heißt: Ich habe meine Kollegen und Kolleginnen nur mit Maske kennen gelernt. Von ihrem Gesicht habe ich nur die Augen gesehen.

Irgendwie stellt man sich ja vor, wie der andere wohl unter der Maske aussieht. Nicht immer liegt man richtig. Ich war erstaunt, als ich bei einer Videokonferenz gesehen habe, dass ein Kollege einen Bart hat. Ich hab ihn mir ohne vorgestellt. – Und es kommt zu Verwechslungen. Dem gleichen  Kollegen sehe ich mit Maske offenbar so ähnlich, dass mich Lehrer und Schüler manchmal für ihn gehalten haben.

Ich glaube, so ähnlich ist das auch mit Gott. Wir Menschen sehen Gott wie hinter so einer Corona-Maske. Wenn man an ihn glaubt, erkennt man etwas von Gott, aber man erkennt ihn eben nicht ganz. Der Apostel Paulus hat in einem Brief in der Bibel geschrieben: So richtig erkennt man Gott erst, wenn man bei ihm ist; nach diesem Leben, in der kommenden Welt, die Gott versprochen hat. Dann, schreibt Paulus, sehe ich Gott „von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich [ihn nur] stückweise“ (1 Kor 13,12).

Es gibt viele Dinge, die ich nicht an Gott verstehe. Ich verstehe nicht, warum das Leben manchmal so kompliziert und anstrengend ist. Ich verstehe nicht, warum es Katastrophen wie Kriege oder Krankheiten gibt. Und ich verstehe nicht, warum es guten Menschen schlecht geht und den Bösen gut.

Ich glaube, das alles verstehe ich nicht, weil ich Gott zwar kenne, aber eben noch nicht ganz. Ich hoffe, dass ich es irgendwann einmal verstehen kann. Eben dann wenn sich Gott ganz zu erkennen gibt. Bis dahin muss ich damit leben, dass ich ihn nur zum Teil sehe – von den Augen aufwärts sozusagen.

Aber die Augen sind ja auch das wichtigste. An den Augen meiner Kollegen und Kolleginnen kann ich viel erkennen. Ob jemand müde ist, Stress hat oder gut drauf ist und sich freut – das alles können auch die Augen zeigen. Auch der Kollege mit Bart ist für mich kein anderer geworden, als er die Maske abgenommen hat. Dass er ein netter Kerl ist, habe ich auch schon vorher gewusst.

Ich glaube so ist das auch mit Gott. Ich werde Gott besser erkennen und besser verstehen, wenn ich ihn von „Angesicht zu Angesicht“ sehe. Ich werde mit Sicherheit auch überrascht sein. Aber Gott wird kein anderer sein. Er wird der liebende Vater sein, den Jesus den Menschen gezeigt hat. Nur ganz ohne Maske und Abstand.

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