Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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09DEZ2020
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„Eigentlich hab ich doch alles“. Das denke ich manchmal, wenn ich unzufrieden bin und gar nicht genau weiß, warum. Ich habe alles, was man zum Leben braucht, sogar noch viel mehr. Dazu habe ich einen sicheren Beruf, Gesundheit und eine Familie... Ich habe alles und trotzdem bin ich manchmal unzufrieden. Komisch. 

Aber vielleicht ist es ja so: Vielleicht bin ich nicht unzufrieden obwohl ich so viel habe, sondern weil ich so viel habe. Ich erinnere mich an die Zeit als Teenager: Da hatte ich nur eine Hand voll Schallplatten, aber die habe ich rauf und runter gehört. Ich hab jedes Lied gekannt und viele Liedtexte hab ich auswendig gekonnt. Jede Schallplatte hat mir etwas bedeutet. Heute habe ich einen ganzen Schrank voll Musik. Manchmal stoße ich auf CDs, von denen ich gar nicht weiß, dass ich sie besitze. Ich hab sie irgendwann im Sonderangebot gekauft, kurz reingehört und dann wieder vergessen. Sie bedeuten mir nichts.

Warum das so ist und warum es vielen anderen Menschen auch so geht, das hat mir der Soziologe Hartmut Rosa erklärt. In seinem Buch „Unverfügbarkeit“ sagt er:  Je mehr wir Menschen versuchen, uns die Dinge verfügbar zu machen, sie in den Griff zu bekommen und in Besitz zu nehmen, desto weniger können wir damit anfangen, desto weniger berühren sie uns. „Dort wo ‚alles verfügbar‘ ist“, schreibt Hartmut Rosa, „hat uns die Welt nichts mehr zu sagen“. Und das macht unzufrieden.

Und umgekehrt: Wenn die Dinge nicht verfügbar sind, wenn man sie nicht im Griff hat, wenn sie einem ungeplant begegnen, dann sprechen sie uns an. Dann berühren sie uns und es kommt zu einer lebendigen Erfahrung, sagt Rosa. Ich finde, das stimmt: Die schönsten Erlebnisse – zum Beispiel im Urlaub – sind die, die man nicht vorher geplant hat. Das nette Café, das man ganz zufällig entdeckt hat, oder der Strand, an dem man nur gelandet ist, weil man sich verfahren hat. Das sind Erfahrungen, die kann ich nicht kaufen und nicht erzwingen. Auf die muss ich warten.

Als Christ glaube ich: Diese lebendigen Erfahrungen, die kann ich nicht erzwingen, aber ich muss sie auch gar nicht erzwingen. Ich bekomme sie von Gott geschenkt. Nicht dann, wenn ich es für richtig halte, aber doch immer wieder.

 „Was hilft es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt und Schaden nimmt an seiner Seele?“ (Mt 16,26), hat Jesus einmal gesagt. Wenn man alles haben kann, verliert man seine Seele. Aber wenn man loslässt, bekommt man immer wieder ein Stückchen von der Welt geschenkt. Und das macht sehr zufrieden.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=32169
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