SWR4 Sonntagsgedanken

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29NOV2020
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Gegenwärtig – gestern, heute und morgen

Vor mir steht ein Adventskranz. Nachher werden wir mit den Kindern die erste Kerze anzünden und dabei singen: „Wir sagen euch an den lieben Advent.“ Das Lied gefällt mir. Es ist einprägsam und bringt auf den Punkt, worum es im Advent geht. Im Refrain heißt es: „Freut euch, ihr Christen, freuet euch sehr! Schon ist nahe der Herr.“ Was für eine Aussage! Der Herr ist nahe. Das ist für mich tatsächlich ein Grund zur Freude.

Als Kind habe ich das direkt auf Weihnachten bezogen. Nicht mehr lange, dann ist die Krippe aufgebaut. Das Christ-Kind kommt zu mir nach Hause – und bringt Geschenke mit. Also: Freu dich, Thomas, freue dich sehr.

Später habe ich gelernt, dass es um mehr geht: Eines Tages oder wie das die Bibel sagt: am Ende der Zeit kommt der Herr wieder. Er ist nahe und ich kann jederzeit mit ihm rechnen. Darauf kann ich mich innerlich vorbereiten und mich zu Lebzeiten entsprechend verhalten. Im Lied heißt es: „Machet dem Herrn den Weg bereit“ und: „Nehmet euch eins um das andere an“.

Mittlerweile ist mir noch eine Facette aufgefallen, die mir fast noch wichtiger ist:
Der Herr istbereits nahe.
Gott hat Mose einmal seinen Namen genannt: „Jahwe“. Das ist hebräisch und heißt: „ich war da“, „ich bin da“ und „ich werde da sein“. Gott ist also präsent und den Menschen nahe – gestern, heute und morgen.

Was das bedeuten könnte, habe ich durch die Künstlerin Marina Abramovic entdeckt. Sie macht oft extreme Sachen. 2010 hat sie sich im Museum of Modern Art in New York auf einen Stuhl gesetzt. 90 Tage lang; über sieben Stunden am Tag. Sie ist einfach dagesessen. Ihr gegenüber konnte jeder Platz nehmen, der das wollte. Alle waren eingeladen, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Nur durch Blicke; ohne etwas zu sagen. Die Aktion hieß: „The Artist is present.“ Das heißt auf Deutsch: „Die Künstlerin ist präsent.“ Und die Aktion war erfolgreich: Tausende Besucher sind gekommen. Abramovic war selbst überrascht, vor allem davon, wie berührt viele waren. Einige haben sogar geweint.[1]

Es ist nicht selbstverständlich, dass jemand so ganz präsent und beim anderen ist. Blicke treffen sich oft flüchtig: Ich erlebe das immer wieder. Manchmal begrüßt mich jemand, schaut mich aber gar nicht an. Oder ich spreche mit jemandem und der schielt immer wieder auf die Uhr. Wenn ich das merke, kränkt mich das, denn ich fühle mich nicht ernstgenommen. Anders war das für die Menschen im New Yorker Museum: Marina Abramovic war präsent; nur da für ihr Gegenüber. Und das hat die Menschen tief berührt.

Wenn das bei ihr schon so intensiv war: Wie grandios ist dann die Vorstellung, dass Gott da ist, ganz nahe bei mir; aufmerksam für jeden Einzelnen. Und das nicht nur ein paar Stunden lang. Sondern immer: gestern, heute und morgen.

 

Gott ist präsent

Gott ist präsent und den Menschen nahe. Darum ging es mir eben in meinen Gedanken zum 1. Advent. Ich habe von der Künstlerin Marina Abramovic erzählt: Sie hat Leute eingeladen, sich ihr gegenüber hinzusetzen. Sie hat sie nicht berührt und nicht mit ihnen gesprochen. Sie war nur da, ganz präsent und hat sie aufmerksam angeschaut. Das hat die Menschen bewegt. Erstaunliches ist passiert: Wer skeptisch war, ist ängstlich geworden, traurig oder glücklich. Manche haben geweint, Hoffnung oder Mut geschöpft. Kaum einer ist gleichgültig geblieben.

Ich könnte mir vorstellen, dass es so ähnlich war, als Jesus Menschen getroffen hat. Nur noch viel intensiver! Er hat die Leute bewegt. Viele haben ihr Leben verändert, nachdem sie ihm begegnet sind. Er hat ihnen offenbar vermittelt, was Gott versprochen hat: Ich bin dir nahe. „Ich-bin-da“ für dich. Jesus wendet sich Menschen zu. Dabei macht er erst einmal nicht viel: er interessiert sich einfach für sie und lässt sie dabei sie selbst sein; so wie sie sind. Sie müssen ihm nichts vormachen. Jesus vermittelt den Leuten, dass er, dass Gott sie annimmt, egal, was in ihnen schlummert oder sie beschäftigt. Er schätzt die Menschen mit all ihren Fehlern. Er schreibt ihnen nichts vor, sondern gibt ihnen einfach die Sicherheit, geborgen, verstanden und geliebt zu sein.

Heute ist Jesus nicht mehr so direkt greifbar wie für die Menschen damals. Ich bin deshalb froh, dass es Zeichen und Rituale gibt, die mir zeigen, dass Gott da ist. Den Adventskranz zum Beispiel, dessen erste Kerze ich heute anzünde. Ihr Licht mag für Jesus stehen; die grünen Zweige symbolisieren Leben, die Kreisform deutet auf Gott hin, der keinen Anfang und kein Ende hat. Wenn ich also die Kerzen bewusst entzünde, führt mir das vor Augen, wie Jesus den Menschen Licht gebracht, ihren Blick geweitet und ihnen neue Wege gezeigt hat – einfach nur, weil er da war und sich Zeit für sie genommen hat.

Aber es passiert noch mehr; fast wie bei den Leuten, die sich zu Marina Abramovic gesetzt haben: Ich spüre, wie warm die Flammen sind, und habe das Gefühl, dass ihr Licht auch für mich leuchtet. Ich rieche das Tannenreisig, das nach Wald und Leben duftet. Und das tut gut. Ich stehe oft unter Strom und muss funktionieren. In so kleinen, fast magischen Momenten fällt das manchmal einfach von mir ab. Ich fühle mich dann frei und irgendwie geborgen. Ich muss mich nicht verstellen oder irgendwelche Rollen spielen. Ich darf einfach da sein. So wie ich bin – vor Gott, für den ich wertvoll bin, unabhängig davon, was ich arbeite oder leiste.

Gott ist da. Für mich und für jede Einzelne. Marina Abramovic hat Leute eingeladen, sich ihr gegenüber hinzusetzen. So ist es auch mit Gott: Er lässt mir die Freiheit, mich ihm zuzuwenden. Er zwingt mich nicht dazu. Aber wenn ich es tue, dann ist er präsent und schenkt mir seine volle Aufmerksamkeit. Ich darf bei ihm verweilen, mich geborgen fühlen in seinem Licht und mich wärmen lassen von seinem Feuer. Wenn es im Adventslied also heißt: „Schon ist nahe der Herr“, dann stimme ich gerne mit ein:
„Freut euch, ihr Christen. Freuet euch sehr!“

 

[1]Vgl. u.a. https://www.spiegel.de/kultur/kino/dokumentation-marina-abramovic-the-artist-is-present-a-869812.html

https://www.kirche-im-swr.de/?m=32146
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