Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

03NOV2020
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Zurückschauen tut manchmal gut. Gerade in schwierigen Zeiten. Es hilft mir zu sehen, welche Krisen ich bisher gemeistert habe, und vor allem, was mir die Kraft dazu gegeben hat. Ich glaube, so ist das auch im Großen, in der Geschichte.

Seit Wochen erwartet die Welt gebannt die Präsidentenwahl in den USA, heute ist der Wahltag. In dieser fiebrigen Erwartung möchte ich kurz zurückschauen und mir das in Erinnerung rufen, was ich an Amerika immer schon beeindruckend fand. Dafür gibt es ein weltbekanntes Symbol: die Freiheitsstatue.

Millionen von Einwanderern aus Europa wurden von diesem Wahrzeichen begrüßt. Aus ihrer Heimat waren sie aufgebrochen, weil sie religiös oder rassisch oder politisch unterdrückt wurden, oder weil sie hofften, Hungersnöten oder bedrückender Armut zu entgehen.

Am Podest der Freiheitsstatue wurde 1903 eine Bronzetafel angebracht, darauf ist ein Gedicht der jüdisch-amerikanischen Dichterin Emma Lazarus zu lesen. Die Freiheitsstatue grüßt damit alle, die mit dem Schiff aus Europa ankommen. Eine Strophe heißt:

„Behaltet, o alte Lande, euren sagenumwobenen Prunk“, ruft sie
Mit stummen Lippen. „Gebt mir eure Müden, eure Armen,
Eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren,
Den elenden Unrat eurer gedrängten Küsten;
Schickt sie mir, die Heimatlosen, vom Sturme Getriebenen,
Hoch halt' ich mein Licht am gold’nen Tore!“[1]

Ich finde das beeindruckend, dass Amerika einmal stolz darauf war, ein Zufluchtsort zu sein. Für Menschen, die nichts mitbringen konnten als sich selbst. Und ihre Hoffnung. Die Bronzetafel ist mittlerweile ins Museum der Freiheitsstatue gewandert. Das Gedicht darauf ist heute nur noch ein Zeitdokument. Aber nicht nur die USA haben sich seit 1903 verändert, die ganze Welt ist eine andere geworden. Viele Länder suchen ihr Heil nicht in Gemeinsamkeit, sondern in Abschottung. Auch in Europa.

Trotzdem tut mir dieser Rückblick gut. Oder gerade deshalb. Er lässt mich hoffen, dass die alten Werte nicht aus der Welt sind: Menschlichkeit, Wahrheit, Nächstenliebe, Gemeinsinn. Immerhin sind sie ja noch ‚im Museum‘. Holen wir sie doch wieder raus! Überall, aus allen Museen weltweit!

 

 

[1]Das ganze Gedicht ist zu finden unter https://de.wikipedia.org/wiki/The_New_Colossus#:~:text=Your%20huddled%20masses%20yearning%20to,lamp%20beside%20the%20golden%20door.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=31952
weiterlesen...