Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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02NOV2020
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Es gibt Gefühle, die ich nicht leicht aushalten kann. Eines finde ich besonders belastend. Es ist eine bestimmte Art von Reue. Reue, die ich spüre, wenn ich irgendetwas versäumt habe. Und zwar so, dass ich‘s nicht mehr nachholen kann. Nie mehr. Wenn mir eine solche Situation einfällt, dann kann ich mich ganz leicht in eine Denkspirale hineindrehen, in der es nur noch einen Gedanken gibt: „Ach, wenn ich‘s doch nur wieder gutmachen könnte!“ 

Da hat ein boshafter Wortwechsel eine Freundschaft vergiftet. Oder ich habe mal etwas Persönliches weitererzählt, und der Vertrauensbruch ist nicht mehr zu heilen. Einen wichtigen Besuch so lange aufgeschoben, bis die Person gestorben ist. Bevor ich sagen konnte, dass ich ihr verziehen habe. Damit muss ich dann leben. Und damit tue ich mich schwer, immer noch. Aber inzwischen kannich mit solchen Gefühlen besser umgehen. Und dassich das kann, das hat mit meinem Glauben zu tun. 

Ich weiß, dass wir einander immer etwas schuldig bleiben. Weil wir Menschen sind und nicht Gott. Auch die Personen, die ich verletzt habe, brauchen Vergebung, vielleicht nicht von mir, aber von anderen. Diesen Gedanken finde ich hilfreich. Ich versuche dann manchmal bewusst,das, was ich an einem Menschen versäumt habe, einem anderen zu geben. Ich stell mir das wie eine Art Solidaritätsfonds vor. Dabei sind wir alle miteinander verbunden. In dem, was gelingt, und in dem, was wir einander schuldig bleiben. Und zwar nicht nur wir Lebenden, sondern auch die, die vor uns gelebt haben. Oder mit uns und schon verstorben sind. 

Der zweite November hat in der katholischen Tradition den Namen ‚Allerseelen‘. Dieser Tag erinnert an die vielen Menschen, die uns vorausgegangen sind. Die wir geliebt haben und mit denen wir‘s schwer hatten. Die uns etwas schuldig geblieben sind und denen wir nicht gerecht werden konnten. 

Ich mag diesen Allerseelentag. Er erinnert mich, dass ich gewissermaßen Hand in Hand mit allen diesen Menschen vor Gott stehe. Ich danke ihm für so viele, denen ich so viel verdanke. Und ich bitte ihn, dass er aus seiner Liebe ergänzt, was uns an Liebe fehlt und was wir aneinander versäumt haben. Denn er – und nur er – hat Liebe genug, um alles gut zu machen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=31951
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