Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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16SEP2020
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Wenn jemand dement ist, ist er eingeschränkt. Aber er bleibt ein Mensch.  

Der erste demente Mensch, den ich kennengelernt habe, war meine Oma. Ich war etwa 15 und habe meine Oma tatsächlich neu kennengelernt. Denn sie hat sich verändert. Etwa ein Jahr lang hat sie bei uns gewohnt, weil sie sich nicht mehr selbst versorgen konnte. Sie hat mit der Zeit vieles vergessen. Namen, Gewohnheiten, oder wie man eine Uhr liest. Aber unterhalten konnte man sich noch lange mit ihr. Für mich hat nicht alles Sinn gemacht, was sie erzählt hat. Aber das war nicht so wichtig. Wichtig war für mich, dass es meine Oma war, die ich gemocht habe. Gedanklich hat sie oft in einer anderen Welt gelebt als ich. Ich habe gelernt, dass ich zu Besuch in ihrer Welt bin, wenn ich bei ihr bin. Ein bisschen wie wenn ich auf einer Reise eine fremde Umgebung erkunde. Da muss ich auch nicht alles verstehen. Auf jeden Fall ist es ihre Welt, und ich bin zu Gast bei ihr. Ich muss ihr nichts ausreden oder erwarten, dass sie sich in meiner Welt sicher bewegt.

Manchmal sind wir zusammen traurig gewesen. Gerade wenn sie gemerkt hat, wie sich ihr Leben verändert. Aber manchmal haben wir auch zusammen gelacht und Spaß gehabt. Beeindruckt hat sie mich damit, dass sie auch an schlechten Tagen das Vaterunser mitbeten konnte. Und die christlichen Lieder, die sie ein Leben lang in ihrem Andachtsbuch gelesen hatte.

Ein dementer Mensch kann sich nicht mehr selbst versorgen und ist in vielem eingeschränkt. Trotzdem hat er Würde. Das christliche Menschenbild sieht das so: Du musst nicht gesund sein, kommunikativ oder in unserer Leistungsgesellschaft funktionieren, um Würde zu haben. Würde hast du, einfach weil du Mensch bist. Ein besonderer Mensch, der von Gott geachtet, geliebt und getragen ist. Unabhängig davon, was man leistet und an was man sich erinnert. Jeder Mensch hat diese Würde. Ein Leben lang.

Ich denke bis heute gern an meine Oma zurück. Nicht nur trotz ihres letzten Lebensjahres.  Auch wegen dieses Jahres und dem, was wir da gemeinsam erlebt haben. Allerdings hatte ich ja auch keine Verantwortung für sie und habe mein Leben nicht einschränken müssen, um für sie zu sorgen. Für meine Eltern war es damals viel anstrengender. Ich bin froh, dass es heutzutage eine Tagespflege gibt, die Angehörige entlastet. Damit sie wieder Energie bekommen für diese gemeinsame Wegstrecke.

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