Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Gibt es so etwas, wie einen persönlichen Engel? Einen Engel, der einen Menschen über Jahre hinweg begleitet? Der tröstet und schützt, der immer mitgeht und vor falschen Schritten bewahrt?

Der Philosoph Walter Benjamin hatte so einen persönlichen Engel. Für ihn war er dargestellt auf einem Bild des Malers Paul Klee. Der Name des Engels war Angelus Novus. Neuer Engel.
Dieser Engel war für Walter Benjamin ein Engel, der ihm immer irgendwie die Tür offen hielt zu dem Unaussprechlichen, zu einer anderen Welt, die noch nicht da ist, die aber möglich ist und in der es besser sein wird und gerechter und friedvoller als es jetzt ist.

Walter Benjamin war Jude. Er kannte die Vorstellung des Judentums, dass jeder Mensch einen persönlichen Engel hat. Dieser persönliche Engel stellt das geheime Innerste eines Menschen dar. Nur Gott kennt es. Genau so wie nur Gott den geheimen Namen des Engels kennt. Dieser Engelname ist, so die schöne Vorstellung, hineingewebt in den Vorhang vor Gottes Thron.

Als Walter Benjamin 1921 das Engelsbild kaufte, wusste er noch gar nicht, wie wertvoll es für ihn werden würde. Später jedenfalls hat er es als seinen wichtigsten Besitz bezeichnet.

Fast ohne Unterbrechung hat er mit diesem Engelsbild gelebt. Er hatte es in seinem Arbeitszimmer hängen; in die verschiedenen Wohnungen, in denen er lebte, nahm er es mit. Der Engel war auch in seiner Brieftasche, als er vor den Nationalsozialisten aus Deutschland fliehen musste. Und in seinem Testament bestimmt er genau, wer es bekommen sollte, nach seinem Tod.

Im Laufe der Jahre waren es immer andere Situationen, in denen der Engel für ihn wichtig wurde. Als er sich von seiner Frau Dora trennte und neu und unglücklich verliebt war, da war der Engel ihm so etwas wie ein Komplize seiner Sehnsucht nach einer neuen Liebe.
Und bei seinen Versuchen, die Welt und ihre Geschichte zu verstehen, da war es auch dieser Engel, der ihm beim Begreifen half.
Mit dem Engel konnte er erschrecken über die vielen Katastrophen der Weltgeschichte.
Und ahnen, wie sehr es doch einer anderen Kraft bedarf, soll sich etwas ändern auf der Welt.

Das Bild hat ihn immer wieder erinnert:
Da ist ein Engel, der "die Tür" offen hält zu einer Welt, die noch nicht da ist.
Ein Engel, der ahnen lässt, dass es die Liebe gibt, auch wenn sie gescheitert ist.
Und dass es Frieden und Gerechtigkeit gibt, auch wenn es unmöglich erscheint.

Advent ist die Zeit der Engel. Und so ein Engel täte auch mir manchmal gut.
Damit er mir so etwas wie eine Tür aufhält zu einer anderen Welt. Und ich nicht aufhöre mich zu sehnen, nach einer guten und gerechten und nach heilen Welt für alle Menschen.
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